Die Welt als Text – Theorielektüren zwischen Lebensform und Fanatismus

Wodurch entwickelte die Theorie die lebensweltliche Selbstevidenz, die sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum maßgeblichen Referenzpunkt zwischen Universität, Kunst und intellektueller Gegenkultur werden ließ? 

In den Geisteswissenschaften, aber auch außerhalb der Universität hat das, was seit den 1960er Jahren „Theorie“ heißt, eine beispiellose Konjunktur erlebt – von Kritischer Theorie über (Post-)Strukturalismus bis zur Medien- und Systemtheorie. Dabei wird „Theorie“ hier weder wissenschaftstheoretisch als „System von Sätzen“, noch nach antiker Begriffstradition als Gegenteil von Praxis verstanden. Das Teilprojekt geht stattdessen von der These aus, dass der Theoriebegriff in den 1960er Jahren eine tiefgreifende Mutation erfuhr, in deren Zuge er Artikel und spezifizierende Attribute abgab und sich im Kollektivsingular als eigenes Genre konstituierte. Mit dieser Transformation gingen ebenso epistemische wie politische Aufladungen einher. Die neue formierte sich gegen die alte Linke unter dem Banner ihrer „Theoriearbeit”. Von Siegfried Unselds edition suhrkamp bis zu Zeitschriftenprojekten wie der Alternative, von Louis Althussers Reihe Théorie bis zu Tel Quel, von der New Left Review bis zu Sémiotext(e) entstand in der Bundesrepublik, in Frankreich und den USA ein publizistisches Feld, in dem das neue Genre „Theorie“ („théorie“, „theory“) zirkulierte. Von marxistischen Intellektuellen zu „theoretischer Praxis“ stilisiert, definiert es sich seither wahlweise über seine Differenz zur (akademischen) Philosophie, zur (positivistischen) Wissenschaft und zur (belletristischen) Literatur.

Louis Althusser, Lire le Capital, Éditions Maspéro, Théorie (1965)

Der ideengeschichtliche Kontext und internationale Transfer von Theorieinhalten ist gut erforscht. Jenseits von solch wissenshistorischen und soziologischen Fragestellungen versucht das Teilprojekt den globalen Theorieboom in seiner Praxis als neuartiges Lektürephänomen zu begreifen. Gegenüber der Privilegierung der Schrift, die der französische Strukturalismus initiierte, ist die komplementäre Praxis des Lesens bisher auf wenig Resonanz gestoßen. Dabei spielten sowohl Lektüretechniken als auch die Reflexion auf Lektüretechniken in der strukturalistischen Theoriebildung eine ähnlich prominente Rolle wie der Topos der Schrift. So erklärte Louis Althusser etwa, seine Epistemologie sei im Wesentlichen das Resultat einer Marx-Lektüre, während Roland Barthes der dreißigseitigen Novelle Sarrasine von Balzac ein zweijähriges Seminar widmete, in dem er seine Semiologie als akribisches Lektüreverfahren entwickelte. Der Fundierung der Theorieproduktion in der Praxis des Lesens entsprach dessen anhaltende Thematisierung als Gegenstand der Theorie. Roland Barthes arbeitete jahrelang an einer „Theorie der Lektüre”, Michel de Certeau widmete sich dem Lesen als „verkannte[r] Tätigkeit”, und Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelten eine „rhizomatische“ Lektürepraxis, die etablierte Lesarten subversiv auf den Kopf stellen sollte. Auf Seiten der Theorierezeption zeugen zahllose Kapital-Lesegruppen, Anti-Ödipus Diskussionskreise und der weit verbreitete „Hausgebrauch“ der Minima Moralia (Ulrich Raulff) vom Lesen als theoretischer Praxis par excellence.

Studentische Lesegruppe, Paris X Nanterre, Mai 1968

Soviel steht fest: Theorielektüren hatten die Macht die Welt zu verändern. Mit Anke Hennig und Armen Avanessian können sie daher als Metanoia verstanden werden, als Erfahrung im Zuge derer man sein Leben ändert und ein anderer wird. Jenseits von hermeneutischen Interpretationsakten provozierte die Theorielektüre daher ein produktives, poetisches Potential, welches vom Leser aktualisiert wurde. So verstanden unterläuft das Lesen die klassische Trennung zwischen schöpferischer Theorieproduktion und passiver Theorierezeption, was einen neuen Blick auf die Emergenz von Theorieereignissen erlaubt.

Um die Konjunktur des Theorielesens historisch einzuordnen und als Metanoia verstehbar zu machen skizziert das Teilprojekt eine Genealogie von metanoetischen Lektüreerlebnissen von der monastischen Bibellektüre über romantische Lyrik und Romanlektüren bis hin zur modernen Theorielektüre. Lesen ist dann metanoetisch, wenn es über den Text hinausgeht, den Leser interpelliert und eine Lebensform entwirft. Dieser formale Entwurf enthält demnach immer auch einen normativen Regelsatz nach dem man lesen und leben soll.  Entgegen Metanoiatheorien, welche die Unplanbarkeit und die Kontingenz der Erfahrung in den Vordergrund stellen, untersucht das Teilprojekt die Regeln, disziplinären Praktiken und Selbsttechniken, welche ein metanoetisches Erlebnis provozieren und als Lebensform hervorbringen. Damit ist Metanoia eine Frage der Lebensgestaltung in der, mit Agamben gesprochen, die Regel und das Leben in eins fallen und ununterscheidbar werden. Die Theorielektüre, so wird hier argumentiert, stellt das jüngste metanoetische Massenphänomen dar, in dessen Zuge Tausende von jungen Lesern ihr Leben und ihre Wirkungsstätten, von akademischen Fachbereichen über Kunstateliers bis hin zu Design- und  Architekturbüros radikal veränderten.

Mittelalterliche Mönche bei der Bibellektüre, 12. Jhd.

Entgegen Bourdieuschen Einschätzungen, nach denen die Theorie vorwiegend der Kultivierung eines intellektuellen Habitus’ diente, versucht das Teilprojekt den Theorieboom post-ironisch, nicht als Lifestyle sondern als Lebenspraxis zu begreifen. Wenn mit Hegel solch „Enthusiasmus für ein Abstraktes“ immer auch ein fanatisches Element anhaftet, dann situiert sich Theorie zwischen der Positivität einer Lebensform und einem latenten Fanatismus, dem jedes Buch zur Orthodoxie werden kann. Aufgabe des Teilprojektes wird es sein, dieses Spannungsfeld als Problem der Theorielektüre aufzuschließen.

Verantwortlich für das Projekt: Peer Illner

Peer Illner ist 1986 in Berlin geboren. Er studierte Medienwissenschaften, Soziologie und Philosophie in Montreal und London. Nach diversen Forschungsarbeiten an der Humboldt Universität, Berlin ist er seit 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Künste. Er schreibt regelmäßig für Theory, Culture & Society, Fulcrum und Historical Materialism. Des Weiteren ist er freier Mitarbeiter an der Architectural Association in London.