Ex Libris

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Wer sich theoretisch mit dem Schreiben und insbesondere mit der Schrift beschäftigen will, liest Vilém Flusser. Zugegeben: nicht die leichteste Kost. Aber: anregend. Das zeigt auch der letzte Abschnitt auf der letzten Seite:

Das Wissen von der eigenen Inkompetenz ist nicht notwendigerweise ein Nachteil. Man kann sich dabei über sich selbst lustig machen (…).

Ebenfalls theoretisch, teilweise poetisch, teilweise essayistisch beschäftigt sich Beat Gloor mit der Sprache und dem Schreiben. Die letzten Seiten seines schmalen Büchleins enthalten eine Liste: „Verwendete und weiterempfohlene Kulturdatenträger / Auf die Insel“ von A wie Gilbert Adair („Der Tod des Autors“) bis Z wie Ueli Zindel („Es anders Läbe“ / Hörspiel).

Über das Gegenstück des Schreibens – das Lesen – denkt Daniel Pennac nach und formuliert nach drei einleitenden Essays „die unantastbaren Rechte des Lesers“:

1. Das Recht, nicht zu lesen

2. Das Recht, Seiten zu überspringen

3. Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen

4. Das Recht, noch einmal zu lesen

5. Das Recht, irgendwas zu lesen

6. Das Recht auf Bovarysmus (die buchstäblich übertragbare Krankheit, den Roman als Leben zu sehen)

7. Das Recht, überall zu lesen

8. Das Recht herumzuschmökern

9. Das Recht, laut zu lesen

10. Das Recht zu schweigen

Im Feld des „kreativen Schreibens“ gibt es unzählige Ratgeberbücher. Zu den klügeren gehören die kleinformatigen Bände einer Reihe aus dem Dudenverlag.

In der Regel anregender und ansteckender als die Lektüre von Ratgeberliteratur ist die Lektüre von „eigentlichen“ Büchern und davon gibt es viele. Zum Beispiel die Sudelbücher von Lichtenberg, 250 Jahre alt und kein graues Haar:

Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe, ich weiss aber so viel, beides trägt nichts desto weniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei.

Solch kurz gefassten Gedanken werden als Aphorismen bezeichnet. Beispiele liefert Robert Gernhardt in seinen „Prosamen“, nebst Beispielen zu vielen weiteren prosaischen Genres, etwa dem der Nachricht:

Das Weltall wird auch immer dicker, stellten amerikanische Gynäkologen während einer tour d’horizon fest. Als Ursache vermuten sie: Zuviel Sterne, zuwenig Bewegung.

Die Form der Frage reizen Peter Fischli und David Weiss aus und das bis zur letzten Seite, auf der zu lesen ist:

Verdient die Wirklichkeit dieses Misstrauen?

Sucht mich das Glück am falschen Ort?

Ein Buch für alle, die eigentlich keine Zeit zum Lesen haben, meint der Klappentext. Ein Buch auch für jene, die auf 200 Seiten in 100 Kürzestgeschichten aus der Weltliteratur unterschiedlichste Sprachstile, rhetorische Kunstgriffe, dramatische Verläufe und komische Wendungen analysieren wollen, zum Beispiel im „Liebesbrief“ von Ennio Flaiano:

Er war bei einer Literaturzeitung angestellt, um Artikel und Erzählungen zu lesen. Einmal erhielt er einen Liebesbrief: Er gefiel ihm nicht, doch mit ein paar Streichungen und wenn man den Schluss neu schrieb, mochte es angehen.

Oder in einer Geschichte ohne Titel von Ramón Gómez de la Serna:

Er hatte ein so schlechtes Gedächtnis, dass er vergass, dass er ein schlechtes Gedächtnis hatte, und anfing, alles zu behalten.

Strenge Regeln ermöglichen mehr Freiheit als vorgebliche Regellosigkeit. Die Autoren der Gruppe Oulipo setzen diese Erkenntnis in ihren Werken gezielt und bewusst ein. Georges Perec etwa, der jedes seiner Bücher nach einem anderen Prinzip verfasst hat, oder Raymond Queneau, dessen „Stilübungen“ vielfach übersetzt wurden, auch in die Sprache der Graphic Novel.

Ebenfalls mit einer strengen Regel hat der Künstler Joe Brainard gearbeitet:

Ich erinnere mich, dass ich zuschaute, wie meine Haare auf den Boden fielen und kleine Häufchen bildeten.

Ich erinnere mich, dass ich Angst hatte, der Friseur könnte ausrutschen und mir ins Ohr schneiden.

Ich erinnere mich, dass das auch passiert ist.

Nicht ganz freiwillig unterwirft sich Wolfgang Herrndorf einer Regel. Er sagt sich nach der Diagnose eines (unheilbaren) Hirntumors: „Arbeit. Arbeit und Struktur.“ Und beginnt einen Blog zu schreiben, ein digitales Tagebuch, erst nur für den Freundeskreis, dann öffentlich. Vom 8.3.2010 13:00 bis zum 20.8.2013 14:00. Parallel dazu Romane.

Weil einem Herrndorf das Herz bricht, braucht’s zum Abschluss ein wenig „Soforthilfe“:

Dies ist ein Buch zur Beruhigung. Dass es auch anderen so geht. Dies ist ein Buch zur Ermutigung, dass auch andere so sind.

 

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