Am 28. und 29. September 2012 fand an der Zürcher Hochschule der Künste die Tagung «Künstlerische Darstellungsformate im Wandel» statt, die sich neuen künstlerischen Formaten in Film, Theater und bildender Kunst widmete. Zu diesem Anlass unterhielt sich Vera Ryser mit Milo Rau über das Format des Reenactments, Blondinenwitze, den Künstler als Ingenieur und die Organisationsstruktur des International Institute of Political Murder (IIPM).1
Vera Ryser: Was kennzeichnet das Reenactment als distinktes Format?
Milo Rau: «Reenactment» ist ein weiter Begriff und jeder verwendet ihn anders. Das geht von einem eher aktionistisch-politischen Verständnis des Formats über ironisch-postmoderne Mimikry-Formate bis zu einer technisch-reproduktiven Vorstellung, in der «historische Korrektheit» eine grosse Rolle spielt. Wenn Nikolai Evreinov 1920 den Sturm auf den Winterpalast reinszeniert als Allegorie auf den Sieg des Proletariats, dann hat das mit der peniblen Art und Weise, wie Romuald Karmakar das Format zum Beispiel in Der Totmacher verwendet und schliesslich den komödiantischen Reenactment-Szenen in Be Kind Rewind von Michel Gondry fast gar nichts zu tun. Ja, dieses Format ist so weit und undefiniert, dass die Frage eher ist, ob es überhaupt eine sinnhafte künstlerische Geste gibt, die nicht in irgendeiner Weise ein «Reenactment» ist.
Ryser: Sie haben in einem Interview einmal gesagt, ein Reenactment sei wie Situationismus rückwärts. Können Sie das erläutern?
Rau: Das ist ein Wortspiel, das zwei Dinge zusammenbringt, die für mich sehr zentral sind: Erstens, dass Reenactments «Situationen» herstellen, also keine toten Abbilder oder Reproduktionen sind, wie es das platonische Vorurteil will, sondern szenische Entscheidungszusammenhänge, die politischen und, was widersprüchlich wirken mag, durchaus auch utopischen Gehalt haben können. Und zweitens, dass Reenactments wie Walter Benjamins Engel der Geschichte, in die Vergangenheit schauen, nach rückwärts, auf Ereignisse, die auf seltsam untote Weise wirksam geblieben sind, «nicht verarbeitet wurden», wie man so sagt. Was bei einem Reenactment zählt, ist der Akt der Vergegenwärtigung, die Herstellung einer solchen, im besten Sinn: revisionistischen Situation. Das historische Wissen, das dabei herausspringt, ist nur Mehrwert.
Ryser: Sie gelten in Theaterkreisen vor allem durch ihre beiden Grossprojekte Die letzten Tage der Ceausescus und Hate Radio als Reenactment-Spezialist. Wie unterscheiden sich die beiden Arbeiten und wie hat sich ihre künstlerische Auseinandersetzung mit dem Reenactment im Verlauf dieser beiden Arbeiten gewandelt?
Rau: Die letzten Tage der Ceausescus setzt eine Folge von Videogrammen in Szene, die zu den berühmtesten der Fernsehgeschichte gehören: die Verurteilung und Erschiessung des Ehepaars Ceausescu im Dezember 1989. Es ging mir hier darum, einem Videofilm, den jeder kennt und der gewissermassen durch sich selbst überschrieben ist, wieder einen Körper, eine Situation, eine Unvollendetheit zu geben, ihn neu zu verhandeln. Hate Radio dagegen zeigt etwas, das niemand kennt und nie fotografiert wurde, nämlich das Innere des ruandischen Radiostudios RTLM, das am Ende des Genozids zerstört wurde. Ganz anders als bei den Ceausescus verzichte ich in Hate Radio auf alle Bilder oder Sounds, die in irgendeiner Weise für das verhandelte Ereignis stehen. Es gibt keine Schädel, keine Macheten, kein «afrikanisches» Geschrei, nichts von alldem. Die beiden Projekte sind also, rein vom Ansatz her, in weitest möglicher Entfernung voneinander angesiedelt.
Ryser: Sie haben sich durch Ihre Reenactments ein eigenes Format der künstlerischen und wissenschaftlichen Dokumentation historischer Ereignisse geschaffen. Was zeichnet diesen spezifischen Arbeitsprozess aus?
Rau: Der erste Schritt ist eine lange Phase der Recherche. Ich fahre an die Orte, an denen die jeweiligen Ereignisse stattgefunden haben, ich spreche mit Menschen, die daran beteiligt waren. Es geht hier – neben der Mühe um eine bestimmte Korrektheit, denn natürlich muss zuerst das «Was» und das «Wie» geklärt werden – darum, an die Atmosphäre eines Vorgangs, einer speziellen historischen Situation heranzukommen. Der zweite, entscheidende Schritt ist die künstlerische Aktualisierung. Ich glaube, dass hier der Begriff «Dokumentation» irrtümlich ist, denn worum es mir geht, ist die Entfaltung der Bedeutungsdichte eines speziellen Ereignisses im Jetzt, nicht um eine szenische Anordnung von Dokumenten. Theater ist, so wie ich es verstehe, kein Informationsmedium, es ist auch kein Medium der Erklärung, es ist ein Medium der Vergegenwärtigung, oder besser: der Erzeugung von Gegenwärtigkeit. Und das ist für viele das Enttäuschende (oder Verwirrende) an meinen Projekten, dass man in ihnen vom dokumentarischen Standpunkt her eigentlich nicht sehr viel erfährt, weniger als in einem 5minütigen TV-Feature, wie es zu Hate Radio in der Süddeutschen hiess.
Ryser: Die Arbeit an der detailgetreuen Abbildung von wichtigen geschichtlichen Ereignissen ist immer auch eine politische. Wie verbinden Sie den künstlerischen und den politischen Anspruch an Ihre Produktionen?
Rau: Diese beiden Aspekte verbinden sich von allein, im Angesicht der Inszenierung, könnte man sagen – nämlich in der Reaktion des Publikums, der Öffentlichkeit. Auf letztlich nicht planbare Weise werden die Zuschauer selbst zu Akteuren, und zwar nicht, indem ich ihnen irgendein konkretes Angebot mache, sondern indem ich eine ausreichend komplexe künstlerische Situation schaffe, zu der sie sich verhalten müssen. Letztlich geht es um eine Art der Anschlussfähigkeit, die sich selbst verbirgt, um eine Entordnung des Dokumentarischen in einer scheinbar realen Situation. Warum trägt die Massenmörderin, die man in Hate Radio auf der Bühne steht, ein Nelson-Mandela-T-Shirt? Warum sind diese tropischen Faschisten alle so entspannt und warum hassen sie Hitler so sehr? Und wieso führen die postkolonialen linksliberalen Vorurteile, die doch alle eigentlich super sind, direkt in den Massenmord? Kurz gesagt: Wo die Kunst das Durcheinander des Realen nicht schön brav dokumentarisch auseinander sortiert, sondern «en bloc» und im Gewusel aufmarschieren lässt, wird es automatisch verwirrend und damit politisch.
Ryser: Ihre Projekte entstehen in Zusammenarbeit mit dem von Ihnen gegründeten und geleiteten International Institute of Political Murder2, einer Art Produktionsgesellschaft aus künstlerisch und forschend tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Was ermöglicht diese Mischung aus Praxis und Theorie?
Rau: Meine praktische Arbeit ist immer theoretisch und vice-versa. Ich denke, dass die Trennung zwischen dem sogenannt «theoretischen» und dem sogenannt «praktischen» Feld der Beschäftigung mit der Welt an einer zutreffenden Beschreibung dessen vorbeigeht, was «In-der-Welt-Sein» künstlerisch eigentlich meint. Vielleicht kennen Sie diesen Witz: Eine Blondine geht zum Friseur. Der Friseur bittet sie, den Walkman abzunehmen, damit er ihr die Haare schneiden kann, doch die Blondine weigert sich. Wie es bei Witzen der Fall ist, fragt er dreimal, und die Blondine sagt dreimal nein, sie wolle den Walkman aufbehalten. Schliesslich verliert der Friseur die Nerven, schnappt sich den Walkman und schleudert ihn in die Ecke. Nach wenigen Sekunden bricht die Blondine tot zusammen. Der Friseur will jetzt natürlich wissen, was sich seine Kundin da Lebenswichtiges angehört hat und setzt sich die Kopfhörer auf: «Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen…»
Worauf ich damit hinauswill: Das «praktische Tun» und das «theoretische Wissen» als distinkte Funktionen gibt es nur in Blondinen-Witzen und in streng schulischen Kontexten. Das IIPM beendet also eine – übrigens geistesgeschichtlich sehr junge – Unterscheidung oder, um Ihr schönes Wort aufzunehmen, eine willkürliche Ent-Mischung von Theorie und Praxis, von Vor-Sagen und Nach-Machen. Natürlich spreche ich hier nicht von Kernphysik oder Elektrotechnik, da masse ich mir keine theoretische Kennerschaft an, sondern von Bereichen, die für Theater und Film relevant sind.
Ryser: Die Personalstruktur des IIPM – International Institute of Political Murder erinnert in seiner Aufteilung in ein «Executive Committee», «Departments» und «Ambassadors» an eine Mischung aus einem wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und diplomatischen Unternehmen. Können Sie das kommentieren?
Rau: Das IIPM ist etwas von alldem. Es ist rein rechtlich eine GbR, also eine «wirtschaftliche» Produktionsgesellschaft für meine Projekte. Gleichzeitig ist das IIPM aber auch mehr, zum Beispiel ein «diplomatisches» Institut in der Internationalität der Produktionsstrukturen, der Themen und des Publikums. Projekte wie Hate Radio oder aktuell die Moskauer Prozesse müssen vor Ort vorbereitet werden, da geht es um eine sehr reale Form von Diplomatie, sonst kommt man nicht an die entscheidenden Gesprächspartner ran, von einem Casting oder einer Aufführung ganz zu schweigen. Und ein «wissenschaftliches» Institut ist das IIPM im Versuch, institutionelle Grenzen (wie etwa die zwischen «Praxis» und «Theorie») zu transzendieren, sowohl in der Form der Arbeit wie auch in ihren konkreten Ergebnissen.
Ryser: Sie haben Anfang 2009 das Manifest «Was ist Unst»3 in der NZZ veröffentlicht und platzieren dieses auch sehr prominent auf der Internetseite des IIPM. Mich interessiert Ihre formale Orientierung an avantgardistischen Manifesten der Moderne sowie Ihre Distanzierung dazu.
Rau: Ich orientiere mich in «Was ist Unst?» und auch in den anderen, weniger verbreiteten Manifesten des IIPM bewusst an der Moderne. Die grosse, die ganze Welt einschliessende Gestikulation der Generation um Eisenstein, Marinetti, Majakowski entspricht mir mehr als dieses pseudokritische Suchen nach dem Minimaldissens, wie es in der späten Postmoderne praktiziert wurde. Ich bin ja in den 90er und frühen Nuller-Jahren erwachsen geworden, und damals hatte man die Wahl zwischen übertriebener Authentizität oder hysterischer Ironie, was beides nicht sehr befriedigend war. Dieses Aufblühen des postmodernen Egos in irgendwelchen minoritären Differenz- und Authentizitäts-Orgien hat mich immer total gelangweilt, ich will nicht wissen, wie mein Wohnungsnachbar sich gefühlt hat, als er sich von seinem letzten Freund oder seiner letzten Freundin getrennt hat. Die futuristische Idee, dass der Künstler zugleich Politiker und Wissenschaftler ist, der die Nerd-Brille des kleinbürgerlichen Intellektuellen gegen die Arbeitskleidung des Ingenieurs vertauscht, entspricht mir da eher.
Das Interview erschien in gekürzter Form im ZETT-Magazin 2/2012 der Zürcher Hochschule der Künste.
- Abb. 1: Thomas C. Lea III. Fighter in the Sky. U.S. Army Center for Military History, Washington, D.C. ↩
- http://international-institute.de/?page_id=175 ↩
- http://international-institute.de/wp-content/uploads/sonstige%20bilder/was%20ist%20UNST.pdf ↩
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