Die Kunst hat ihren Sonderstatus als Religionsersatz (wohl endgültig) verloren

Das Kunstwerk als einmaliges, unwiederholbares Live-Ereignis, die leibliche Co-Präsenz von Akteuren/innen und von Zuschauenden: was einst das Privileg von Theater, Tanz, Konzert und Performance war, hat längst sämtliche Kunstgattungen als Imperativ erfasst. Selbst der Film, ob fiktional oder dokumentarisch die Kunstform mit dem höchsten «Illusionsquotienten», dem gewissermassen ein Live-Charakter eigen ist, ist auf diesen Zug aufgesprungen. Davon zeugen die explodierende Anzahl grosser und kleiner Filmfestivals, deren grösster Trumpf weder die Filme selbst noch die Erstmaligkeit ihrer öffentlichen Aufführung ist, sondern die leibliche Anwesenheit von (Star)Regisseuren/(Star)Regisseurinnen und von (Star)Schauspielern/(Star)Schauspielerinnen.
Auch für die bildende Kunst gilt: Vernissage und Finissage werden, wo immer die finanziellen Mittel vorhanden sind, als sozio-gastronomische Events inszeniert, in deren Zentrum weniger das präsentierte Werk steht, als vielmehr der anwesende Künstler/die anwesende Künstlerin selbst («idealerweise» bilden Künstler/in und Werk sowieso eine untrennbare Einheit, die im Kunstwerk sicht- und erfahrbar wird; als ein nahe liegendes Beispiel mag hier Pipilotti Rist dienen). Wo in naher Zukunft ganze Museumssammlungen allzeit auf dem eigenen Bildschirm verfügbar sind, müssen sich die Museen (auch dies eine Wachstumsbranche, bald jeder/jede «bedeutende» Künstler/in bekommt sein/ihr eigenes Museum) etwas einfallen lassen, um das Publikum vor Ort zu bringen. Poetry-Slam, Literaturhäuser, Festivals und Lesenächte bieten Literatur und ihre Hersteller/innen als Erlebnispackage an; die Auftrittskompetenz von Autorinnen und Autoren gehört mittlerweile zum Standardangebot jedes simplen Schreibkurses. Aber auch die «traditionelle» Rezeption von Literatur, das Lesen, spielt sich je länger je weniger im Eins zu Eins der persönlichen, zeitlich und örtlich individuell gestaltbaren Lektüre eines Textes ab, der vorgängig zwischen zwei Buchdeckel gepresst wurde und von A bis Z durchgelesen wird.
Das Lesen nicht nur journalistischer und wissenschaftlicher, sondern auch literarischer Texte hat sich fundamental verändert und wird sich weiter verändern; die Möglichkeiten, die das Internet bietet, werden von immer mehr Menschen immer stärker genutzt. Das betrifft die ganze Buch- oder genauer gesagt «Text»kette, von der Produktion (Texte als Books on Demand oder E-Books), über die Distribution (Bestellung direkt bei der Autorin, Online Zugriff auf entlegene oder vergriffene Publikationen), bis zur Rezeption (jede und jeder kann Leseeindrücke (mit)teilen oder gar die eigenen Texte bewerten). Doch mit den technischen Umwälzungen ist erst ein Bruchteil der gigantischen und noch nicht absehbaren Entwicklungen und Herausforderungen benannt. Das veränderte Leseverhalten – neben die Lektüre integraler Texte tritt z. B. das gezielte Absuchen einer oder vieler Textdatei(en) nach Stichwörtern oder Schauplätzen, die wiederum, so sie auf einen Ort in der realen Welt verweisen, sofort auf Google Street View «besichtigt» werden können; bald wird man auch das IKEA-Sofa, auf dem der Vater seinem halbwüchsigen Sohn in einem fiktionalen Text ein Geständnis abringt, sogleich zur Illustration abrufen können, oder die in der Kurzgeschichte erwähnte Lautsprecherdurchsage am Zürcher Hauptbahnhof als O-Ton im Internet finden – verändert auch die Herstellung von Texten, also das Schreiben selbst, die gewählten Formate, das (Selbst-)Verständnis von Autor/in und Autorschaft sowie den Werkbegriff auf fundamentale Weise.
Denn was bedeuten die veränderten gesellschaftlichen und technischen Rahmenbedingungen für die künstlerische Produktion und damit für die Arbeit der Kunstschaffenden? Was bedeutet es, wenn das Urheberrecht zunehmend auf Unverständnis stösst, die Kulturkonsumentinnnen und -Konsumenten sowohl Information wie auch künstlerische Werke – Filme, Musik, Bücher – nur noch gratis sehen, lesen und hören wollen, im Nachgang vielleicht zu einem besuchten Konzert oder Literaturfestival?
Es ist nicht allzu lange her, da war es so, dass der Künstler/die Künstlerin ein Werk schuf und sich erst danach um die Verbreitung bzw. Vermarktung und Vermittlung kümmerte. Ein Verlagsvertrag lag nicht bei der ersten Ideenskizze vor, sondern ergab sich, nachdem man das Manuskript fertig gestellt hatte. Heute braucht niemand mehr einen Verlag, um ein Buch publizieren zu können, und ein Teil der Finanzierung lässt sich womöglich über die Plattform «www.wemakeit.ch» generieren; kurz, das Produkt wird verkauft, bevor es geschrieben wird. Die Unterstützer/innen können teilweise inhaltlich mitreden, ab zweihundert Franken den Namen einer literarischen Figur bestimmen und anderes mehr.

«Wer kann sich heute noch konzentrieren?», so die Standardfrage eines geschätzten und viel beschäftigen Kollegen, der sich morgens um fünf an den Schreibtisch setzt, um nicht von telefonischen Anfragen, Mails oder der eigenen Newsgetriebenheit abgelenkt zu werden. Wie müsste ein Roman beschaffen sein, der die Weltwahrnehmung seiner Leser/innen auch nur einigermassen adäquat literarisch abbildete? Oder geht es im Gegenteil darum, der allgemeinen Verzettelung, der Aktualitäts- und Gegenwartshysterie («Nichts verpassen, bleiben Sie dran») Kohärenz, Genauigkeit und Sorgfalt gegenüberzustellen, also die Romanwelt, so komplex sie auch ausgestaltet sein mag, trotzdem als mehr oder minder kompakte Gegenwelt zu behaupten? Dies ist eine Frage, die ich mir beim Schreiben permanent stelle, während die Schriftstellerin Katharina Hacker zum Beispiel ihre letzten Bücher zweispaltig konzipiert hat, um dem Nebeneinander unterschiedlicher Lebenswelten formal und inhaltlich wenigstens etwas gerechter zu werden. Der Prämisse folgend, dass «ein Ganzes» weniger ist als die Summe seiner Teile, woraus die ästhetische und ethische Notwendigkeit folgt, den Ganzheitsanspruch aufzugeben zugunsten von inhaltlicher und formaler Pluralität, die dezidiert fragmentarisch ausgestaltet wird und somit dem Leser/der Leserin mehr «Eigenleistung» abfordert (allein das Hin und Her zwischen den beiden Spalten ist mühsam und wirft einen immer wieder von Neuem aus dem Lese- und Erzählfluss, in den man so gerne eintauchen würde), ihm oder ihr aber auch mehr Freiheit zugesteht.
Dieses Konzept steht im Widerspruch zur eingangs skizzierten Entwicklung, denn was bedeutet die «Eventisierung» künstlerischer Darstellungsformate, die performative Inszenierung einer Lesung beispielsweise, anderes als den Zuschauern, besser gesagt den Beiwohnenden, weniger Entscheidungsfreiheit zu gewähren. Eine Verführungsstrategie, die Aug, Ohr, Nase und Haut in Beschlag nimmt und der man sich offensichtlich noch so gerne hingibt. Das Publikum will geradezu seiner Autonomie beraubt werden. Peter Webers Frage «Wer kann sich heute noch konzentrieren?», liesse sich vielleicht so beantworten: Der oder die, deren fünf Sinne, Gedanken und Emotionen für eine Weile so in Beschlag genommen werden, dass er oder sie sich der Erfahrung nicht entziehen kann.
Daran schliessen sich weitere Fragen an: «Wie autonom bin ich als Künstler/Künstlerin in meinen Entscheidungen, und wie sehr will (und kann) ich es sein?», «Hat das Modell des autonomen Künstlers tatsächlich ausgedient?», «Ist der Autor schon lange tot oder suchen wir nicht trotzdem in jedem Text nach der unverwechselbaren Stimme, die nicht privat wäre, aber persönlich, Teil der Persona, die ihn verantwortet?», «Ist der Vermittlungsaspekt, der von den Kulturförderern mittlerweile eingefordert wird als Teil des Projekts, nicht schon in jedem Kunstwerk selber enthalten, so es denn etwas taugt?».
«Künstlerische Darstellungsformate im Wandel» ist ein buchstäblich weites Feld, das dieser Eingangstext nicht systematisch und umfassend, sondern bestenfalls punktuell beackert. Sein Format ist das einer Suchbewegung, die aus verschiedenen Gründen zu keinem Schluss kommen möchte. Denn was die Autorin hier mäandrierend (und stets von diversen weiteren Verpflichtungen unterbrochen) unternimmt und herstellt, ist auch ein Abbild ihrer Lebens- und Arbeitssituation; sie konstatiert nämlich, ähnlich wie der (Jazz)Musiker, dass sie beide vermehrt von Auftragsarbeiten, Lehrverpflichtungen und Auftrittshonoraren leben, während es vor fünfzehn Jahren noch der Verkauf ihrer Werke (CDs, Bücher, Theaterstücke) war, der den Hauptteil des Einkommens generierte.
Damit einher geht eine dramatische Verschiebung der investierten Arbeitszeit: weg vom grossen «Werk» v/o Roman hin zu kleineren (Auftrags-)Formaten, die allerdings gefragt sind wie nie zuvor: Kolumnen, Essays, Kurzgeschichten, meist als Termingeschäft verfasst zu einem bestimmten Thema, für einen bestimmten Anlass (Jubiläen, Anthologien) oder in einem und für einen sonstwie zeitlich und örtlich fixierten Kontext.
Als Beispiel mag hier «Schreiben im (Luxus-)Hotel» dienen, ein professionell aufgezogenes Marketingprojekt der Swiss Leading Hotels: Die Anwesenheit der Autorin im Wellnesstempel als Köder für eine Zeitungsreportage. Eine Investition, die sich für das Hotel hundertfach auszahlt, bedenkt man die eingesparten Kosten für ein (ungleich wirkungsloseres) Inserat in derselben Zeitung. Dass die während des Gratis-Aufenthalts entstandenen Kurzgeschichten nicht unbedingt nach dem Gusto der Hotelmanager waren, steht auf einem anderen Blatt, ist aber für die Schreibenden (denen zuvor völlige inhaltliche Freiheit zugesichert worden war) nicht weniger unangenehm, als für die Auftraggeber, die immer noch die Freiheit haben, darauf zu verzichten, die Geschichte im hoteleigenen Magazin abzudrucken. Der Werbe-Effekt ist erzielt, die Autorin zwar für ihre Arbeit einigermassen adäquat bezahlt, das literarische Produkt indessen wird elegant entsorgt (denn woanders lässt sich ein solcher, spezifisch im Kontext «Hotelaufenthalt» verfasster Text nur schwerlich unterbringen).
Zwischenfrage: Was bedeutet es, wenn die Leitung eines städtischen Theaters sagt: «die Premiere könnten wir dreimal, viermal verkaufen, aber die folgenden Vorstellungen laufen meistens schlecht»? Um mehr Mittel zu generieren, werden Stühle und Bühnenbodenbretter «verkauft», d. h. sie bleiben dem Theater erhalten, gehören aber formell den Zuschauerinnen und Zuschauern, die sich damit in den Leib, in die physische Substanz des Theaters eingekauft und oft auch buchstäblich eingeschrieben haben, indem ihr Name auf die Stuhllehne platziert wird.
Wenn sich seit Januar 2013 Radio SRF  2 neu präsentiert, dann nach den Massstäben, die auch die Börsenkurse bestimmen: Aktuell, schnell, informativ, «newsig». Radio SRF  2 soll zum Begleitmedium in den Arbeitstag und spät nachmittags in die Freizeit werden; ein zuvor in dreieinhalb Arbeitstagen gestaltetes Format, wie die tägliche halbstündige Kultursendung Reflexe, soll – wen erstaunt es – so oft wie möglich live gesendet werden, und die bezahlte Arbeitszeit wird drastisch verkürzt auf eineinhalb Tage.
Mehr «Kultur», vornehmlich häppchenweise serviert, soll also mit weniger finanziellen und personellen Mitteln am Radio geboten werden. «Gesellschaftsrelevant» soll die im Radio präsentierte oder vermittelte Kunst sein, d. h. wenn eine literarische Neuerscheinung, eine Uraufführung, eine Kunstausstellung, eine Ballettpremiere sich in den Rahmen eines tagesaktuellen Themas einpassen lässt (Gripen–Kauf, Asyldebatte, Sorgerecht), darf und soll sie gerne in Erscheinung treten; wo nicht, hat das einzelne Werk es schwer, medial wahrgenommen zu werden. Ein neuer Spielfilm, der jüngste Roman des Autors XY besitzt keinen Newswert mehr an sich.
Lauter Phänomene, die mir weniger beklagens- denn bemerkenswert scheinen: «Die Kunst» hat ihren Sonderstatus als Religionsersatz, als Medium, durch das sich die Wahrheit zu Wort meldet und ins Bild setzt, (wohl endgültig) verloren. Dieser Verlust muss nicht, aber er kann auch einen Gewinn bedeuten, einen Gewinn an Diversität (der Kunstbegriff erweitert sich zu einem viel allgemeiner und breiter gefassten Kulturbegriff, der Volksfeste ebenso einschliesst wie soziokulturelle Animationsprojekte), einen Gewinn an Teilhabe und Teilnahme vieler.
«Die Kunst» hat sich, so scheint es, sowohl in ihrem Selbstverständnis wie auch in ihrer Rezeption, sukzessiv verabschiedet aus dem Elfenbeinturm, in den sie sich eine Zeitlang, die Prämisse der «Kunstfreiheit» für sich in Anspruch nehmend und ihr folgend, zurückgezogen hatte.
Erika Fischer-Lichte definiert (nicht propagiert!) «Kunstfreiheit» in ihrem Buch Ästhetik des Performativen als absolute Spaltung zwischen Kunst und Realität: «Kunstwerke meinen niemals, was sie zeigen oder sagen. Sie dürfen nicht als politische oder moralische Statements missverstanden werden, nicht als Pornographie oder Blasphemie, auch wenn es den Anschein machen mag – sie bedeuten etwas ganz anderes, sind von der Wirklichkeit durch eine tiefe Kluft getrennt.»1

Wenn der ehemalige Direktor der Pro Helvetia, Pius Knüsel, in einem Referat vor vier Jahren, eben dieser Kunstfreiheit einen gravierenden Bedeutungsverlust der Kunst anlastet, trifft er einerseits zwar ins Schwarze, es muss ihm andererseits aber heftigst widersprochen werden: Das einzelne Kunstwerk hat wohl an Bedeutung verloren, nicht aber «die Kunst» in all ihren Ausformungen und Formaten, eben weil sie sich in den letzten Jahren deutlich hin zum Publikum entwickelt hat, die Grenzen zwischen «Kunst» und «Leben» ständig überschreitet, die Unterscheidung von Produzent und Konsument teilweise obsolet macht.
Der Preis dafür sind allerdings Phänomene, wie die eingangs beschriebenen. Die Präsentation der Werke ist wichtiger geworden als die Werke selbst bzw. die Präsentation ist integraler Bestandteil des Werks, macht das Werk erst ganz. Wenn das Literaturhaus Zürich seine Saison eröffnet, zieht es aus Platzmangel um ins Zunfthaus zur Meisen, das eine Viertelstunde vor Veranstaltungsbeginn gerammelt voll ist.
Dargeboten wird aber keine Lesung, sondern es werden vier mehr oder weniger Prominente aus dem städtischen Kulturleben (die damit durchaus einverstanden sind) dem Publikum vorgeführt in ihrem Bemühen, je einen ersten Satz zum Klappentext eines existierenden Buches zu erfinden, dessen Titel zunächst geheim bleibt. Nach fünf Minuten ist die Schreibarbeit getan; der Sieger/die Siegerin wird vom Publikum gekürt, das in einer zweiten Runde herzlich eingeladen ist, selber einen ersten Satz zu verfassen zu einem zweiten Klappentext, der von einer echten Schauspielerin vorgetragen wird.
Die drei besten Sätze aus dem Publikum werden von einer Jury gekürt, die aus zwei ebenfalls echten und ebenfalls anwesenden Schriftsteller/innen besteht. Zu gewinnen gibt es einen Restaurantgutschein sowie Gratiseintritte zur Lesung des internationalen Literatursuperstars Carlos Ruiz Zafon; das ganze Happening wird launig präsentiert von einer populären Spitzenkraft der Moderatorenzunft.

So weit, so gut. Ist das eine Form von echter Partizipation? Ist das die Demokratisierung der Kunst? Jeder ein Autor, jede eine Künstlerin – die Vision von Joseph Beuys hat sich in gewisser Weise tatsächlich verwirklicht, zumindest, wenn wir von den Privilegierten dieser Welt sprechen. Damit haben sich Grenzen definitiv verwischt und zwar mehrere: Zwischen Leben und Kunst, zwischen Laien- und Hochkultur, zwischen Kunstproduzent/innen und –Rezipient/innen, zwischen Dokumentation und Fiktion. Denn seit längerem gilt: Je weniger «Kunstcharakter» ein Kunstwerk hat, je näher am Leben, umso besser, d. h. umso erfolgreicher ist es.
«Der Mensch vermag die unsichtbaren Kräfte, welche die Welt durchwirken, letztlich nicht in seine Gewalt zu bringen»2, schreibt Erika Fischer-Lichte und attestiert der Performance, dass sie, indem sie dem nicht Vorhersagbaren, dem nicht bis ins letzte Detail Planbaren Raum gibt, jene Qualität erreicht, die direkt ins Leben transferiert werden kann.
Wenn wir seit einiger Zeit Gruppenlesungen – ein boomendes Format, wer will schon nur einen Autor/eine Autorin sehen und hören, wenn es auch drei oder vier im Angebot gibt – als Text-Improvisationen gestalten, d.h. existierende Texte werden als Quodlibet dargeboten, häppchenweise, unabgesprochen fallen wir einander ins Wort, lesen parallel, lassen Textmusik entstehen, dann lassen wir uns ein auf das Unbestimmbare, Unbeherrschbare. Querbezüge stellen sich her, die Texte beleuchten einander, eröffnen neue Assoziationsräume. Der Zwiespalt aber bleibt, denn eben die Form ist es, die den Kunstcharakter ausmacht. Der Simulationsraum, den ein literarisches Werk, ein Theaterstück eröffnet, ist das eigentliche einer künstlerischen Leistung; gerade dass in ihm und mit ihm durchgespielt werden kann, was sich nicht realisieren muss – Gewalt, Liebesverrat, Rausch, etc. – lässt uns Leser/innen und Theatergänger/innen den Entscheidungsspielraum erfahren, den wir in unserem Leben haben.
Dieser Text ist ein paar Monate alt; ich habe ihn für die heutige Veranstaltung durchgesehen und, wo geboten, aktualisiert; keine Konklusion, habe ich damals geschrieben, – dass dieser Text zu keinem Schluss kommen möchte, schrieb ich; dass er angewiesen sei auf Leserinnen und Leser, die ihn nicht zu einem Ganzen machen, sondern Teile davon weiterspinnen und viele weitere Aspekte in ihn einbringen, sei die Hoffnung, die diesem Text innewohne.

Heute möchte ich einen Schritt weitergehen, indem ich zurückkomme auf ein paar Begriffe, die den Text explizit und implizit tragen: Autorschaft, Persönlichkeit, Verantwortung. Ist es verwegen oder gar vermessen, wenn Künstlerinnen und Künstler, wenn ich als Autorin dieses Textes und anderer, geschriebener und noch ungeschriebener Texte, diese drei für mich in Anspruch nehme. Den konstatierten Phänomenen bin ich ja nicht einfach ausgeliefert, ich gestalte sie mit oder verweigere mich in meiner und mit meiner Arbeit den vermeintlichen Zwängen und Forderungen. Wenn ein Kollege in einem Gespräch mich darauf aufmerksam macht, dass ein gewisser Widerspruch bestehe, wenn ich einerseits die Personalisierung und damit auch das stärkere Gewicht, das der Persönlichkeit eines Künstlers/einer Künstlerin beigemessen wird, beklage, und andererseits das Verschwinden eben jener Persönlichkeit in Politik, Wirtschaft und Kunst, muss ich ihm teilweise Recht geben. Es ist ein Dilemma, dem wir nicht ganz entkommen, wenn wir als Künstler/innen unsere Werke ins Zentrum stellen, diese aber als Persönlichkeiten verantworten wollen, ohne damit das eigene Werk zum Verschwinden zu bringen; auf Autorschaft beharrend, das Werk ins Zentrum stellend.

 

  1. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004
  2. Ebd.