Die Leitfrage in vielen unterschiedlichen Projekten in die ich in den letzten Jahren involviert war, ist die, wie Künstler/innen über ihre eigene Praxis sprechen. Welche Formen könnte ein Sprechen und Schreiben haben, das aus einer künstlerischen Praxis heraus entwickelt und als solches auch reflektiert wird, bzw. sich reflektiert. Diese Frage verfolge ich zum einen in selbstorganisierten Zusammenhängen, zum anderen im Kontext einer in den institutionellen Rahmen einer Kunsthochschule eingebetteten künstlerischen Forschung.
Hier ist mir vor kurzem ein Text der Kuratorin Vanessa Ohlraun begegnet. Darin fragt sie danach, wie künstlerische Forschung über künstlerische Praxis spricht.1 Vor dem Hintergrund dieser Frage stellt sie die Arbeit Verb List Compilation II: Actions to Relate to Actions to Relate to Oneself (2010) des Künstlerduos Hadley+Maxwell vor.2 Die Arbeit ist eine Reaktion auf Richard Serras Verb List Compilation: Actions to Relate to Oneself (1967-68), eine Reihe von Verben die künstlerische Verfahrensweisen beschreiben, sowie «Kontexte» in denen diese angewandt werden können.3
Serra selber benutzte die Liste als Grundlage für eine Reihe von 16mm-Filmen. Hadley+Maxwell stellen dieser Liste eine zweite mit Begriffen aus aktuellen Pressetexten und Künstler-/innenstatements gegenüber. Während Serras Liste vorwiegend aus Verben besteht, die eine zeitbasierte Handlung in einer materialen künstlerischen Praxis anweisen, besteht jene von Hadley+Maxwell aus politisch-philosophischen Abstraktionen. Die Begriffe von Hadley+Maxwells Liste sind einem Korpus von Kunstvermittlungstexten entnommen, der sich eigenen Angaben zufolge vor allem aus Einladungsmails des Kunstnetzwerks e-flux speist. In der Kombination dieser beiden Sprachen – der Studiosprache und dem Fachjargon der Kunstvermittlung – sehen Hadley+Maxwell das Potential für eine adäquate Beschreibung zeitgenössischer künstlerischer Strategien: «For example, you can roll something to explore it, or crease to articulate it; you can shave to reveal something or crumple to deconstruct it.»4 Auch Ohlraun begreift das Ineinandergreifen und die Überlagerung dieser verschiedenen Sprachen als Möglichkeit sich ein Vokabular wiederanzueignen, «that is intrinsic to artistic practice.»5 Künstlerische Praxis wird hier in einer Gleichzeitigkeit von Produktions- und Rezeptionszusammenhängen situiert. Grundsätzlich problematisiert wird die Tatsache, dass künstlerische Praxis oft mit Hilfe einer Sprache verhandelt wird, die dieser Praxis nicht eigen ist, sondern einer anderen, namentlich der akademischen Welt entstammt.
Serras Verbliste erscheint hier – im Kontrast zur überformten Metasprache der Kunstvermittlung als Ausdruck einer materialen künstlerischer Produktionspraxis, als Beispiel einer Sprache, die operativ mit den Dingen verbunden ist und damit nicht «über die Dinge», sondern vielmehr «die Dinge selbst spricht».
Im theoretischen Teil seiner Mythen des Alltags skizziert Roland Barthes eine solche «Objektsprache» als Beispiel einer Sprache, die gegen den Mythos immun ist. Barthes wählt das Beispiel des Holzfällers, der auf den Baum zu sprechen kommt, den er fällt. Während es zwischen Holzfäller und Baum nichts als Handlung gibt, kann ihm zufolge jemand, der kein Holzfäller ist, nur noch über den Baum, bzw. vom Baum sprechen. Im Gegensatz zur «realen» («ersten») Sprache des Holzfällers, könne die Metasprache des Nicht-Holzfällers, nicht mehr «Dinge» behandeln, sondern nur noch ihre Namen.6
Kann nun Richard Serras Verbliste als Beispiel einer solchen «realen» Objektsprache verstanden werden? Eine solche Deutung entspräche zumindest den eigenen Aussagen Serras. In verschiedenen Statements über seine Arbeit mit der Liste betont er den Status der darin enthaltenen Worte als direkt auf eine Handlung zielend.7 Er spricht davon, dass die Arbeit mit der Liste ihm ermöglicht habe, losgelöst von einer Haltung zur eigenen Handlung zu arbeiten, und Überlegungen, wie die Arbeit am Ende aussehen wird, zu suspendieren. «So, basically it gives you a way of proceeding with material in relation to body movement, in relation to making, that divorces from any notion of metaphor, any notion of easy imagery.»8 Die sprachlich verfassten Vorgaben der Verbliste vermögen also die störenden Bilder zu bannen und ermöglichen Serra ein unvermitteltes Verfahren mit Material. Da dieser Liste eine derartige Bedeutung zukommt hat es mich interessiert, wie sie zustande gekommen ist. Sucht man online nach der Verbliste, wird man bald auf der Website ubuweb.com fündig, auf der Serras Liste in plain text zu finden ist.9 Neben der Liste in plain text findet sich hier zusätzlich auch ein JPEG-Bild mit dem Namen «serraverblist.JPG». Zu sehen ist eine handgeschriebene Liste, die weitgehend mit der plain-text-Liste übereinstimmt.10 Weitere Recherchen zeigen, dass es sich bei der handgeschriebenen Liste um ein Werk handelt, das 2011 unter dem Titel «Verb List 1967-68» als Schenkung des Künstlers an die Sammlung des MoMA überging. Auf der MoMA-Website wird ausserdem vermerkt, dass die Verb List 1971 erstmals im Künstlermagazin Avalanche erschienen sei.11 Die Liste befindet sich in einem doppelseitigen Beitrag mit der Headline «Richard Serra» in der zweiten Ausgabe. Sie ist betitelt mit «Verb List Compilation 1967-68», ergänzt mit dem Zusatz «Actions to relate to oneself, material, place, and process» und dem sich mir nicht erschliessenden Produktionsvermerk «(Hi Ho Silver, Edmonton, Canada)». Auf derselben Seite wie die Liste sind drei kurze Texte abgedruckt, ein Zitat von Marcel Duchamp und ein Fragment von Dan Graham. Über die Doppelseite verteilt sind Stills von Serras Filmen mit jeweiligen verweisenden und/oder erklärenden Bildlegenden.
Auf meiner weiteren Suche stiess ich auf den Blog der nordamerikanischen Künstlerin und Dozentin Judith Leemann.12 Leemann konstatiert dort eine augenfällige Übereinstimmung zwischen Serras Verbliste und dem Klassifikationssystem von Yuichiro Koijro, das 1965 in Honolulu auf Englisch unter dem Titel «Forms in Japan» in Buchform erschienen war.13 Koijros Liste stellt einen Versuch dar, einen Katalog der in Japan zu findenden Formen zu erstellen.14
Knapp Dreiviertel der Wörter von Kojiros Liste finden sich wieder in Serras Verb List.15 Auch die Reihenfolge und Anordnung der Begriffe deckt sich über weite Strecken. So, dass bei Verb List von einer direkten Bezugnahme Serras auf Forms in Japan ausgegangen werden kann.16
Die Verbliste, die den Künstler Serra vor dem Einfluss von nicht direkt aus dem eigenen Arbeitsprozess entspringenden Bildern und Vorstellungen bewahren soll, ist selber kein direkter Ausdruck dieser Arbeitsprozesse. Sie trifft «von Aussen» auf die künstlerische Praxis. Es handelt sich um eine Übertragung von Begriffen eines spezifischen Diskurses in einen anderen. Auffallend ist die Tatsache, dass Serra die Quellen, auf die er sich bezieht, nicht nennt. Der Akt der Übertragung wird verschleiert.
Die Arbeitsweise Serras und ihre Rezeption erinnert mich an die Aussagen von Roland Barthes zum Verhältnis der Poesie zum Mythos. Die Dichtung ist ihm zufolge als sprachkritischer Versuch zu sehen, nicht zum Sinn der Wörter, sondern zum Sinn der Dinge selbst zu gelangen. Damit verhalte sie sich spiegelbildlich zum Mythos, der vorgebe, «über sich selbst hinaus in ein System von Tatsachen überzugehen»17: Es sei dabei gerade ihr Widerstand, der die Poesie zur «idealen Beute des Mythos» mache. Gerade die Bewegung, mit der man sich vom Mythos lösen wolle, falle ihm bevorzugt zum Opfer. Zumindest im Feld der bildenden Kunst ist die von Barthes beschriebene Dynamik der Mythologisierung allerdings keine rein passiv erfahrene, sondern wird von Künstler/innen auch gerne aktiv genutzt. Vor diesem Hintergrund liesse sich Serras Liste weniger als Ausdruck einer Produktionswirklichkeit, denn als präzise gesetzter diskursiver Akt verstehen. Die «erste Sprache» wäre hier also eine immer schon «entwendete».
Was Helmut Draxler für den Bereich der kunstfremden «Forschung» postuliert, muss auch für den Bereich des Handwerks und des praktischen Gestaltens gelten, den Serra mit seiner Liste aufruft.18 «Künstlerische Forschung» wäre nach Draxler dann sinnvoll, wenn sie wissenschaftlich-technische Begriffe wie etwa Labor oder Experiment nicht einfach beanspruchen würde, sondern «wenn in der Beanspruchung auch gleichzeitig die Abgrenzung sichtbar gehalten und damit ihr spezifischer künstlerischer Sinn artikuliert werden könnte.»19 Wie für Draxler das wissenschaftlich-technische Begriffsinstrumentarium selber historisch zu situieren ist, so beschreiben auch die innerhalb einer bestimmten Tradition stehenden Begriffe von Forms in Japan das spezifisch künstlerische an Serras Arbeitsweise nur unzureichend.20 Dessen Verb List wird also erst dann verständlich, wenn sie als künstlerische Behauptung gelesen wird, als spezifischer Übertragungsakt von einem Feld in ein anderes.21
- Vanessa Ohlraun, «Letter to Janneke Wesseling», in: Janneke Wesseling (Hg.), See it Again, Say it Again. The Artist as Researcher, Amsterdam 2011, S. 200–203. ↩
- Abb. 1
Abb. 2
↩ - Z.B.: «to remove», «to simplify», «to differ», «to disarrange», «to open», «to mix», «of mapping», «of location», «of context», «of time». ↩
- Hadley+Maxwell, «Dear Brian and Verb List Compilations 1967-68 & 2010», in: TCR, 2011, S. 43. ↩
- Abb. 3
Abb. 4
↩ - Vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/Main 2012, S. 299. ↩
- Abb. 5 ↩
- http://www.art21.org/texts/richard-serra/interview-richard-serra-charlie-brown ↩
- http://www.ubu.com/concept/serra_verb.html ↩
- Einzig der Begriff «of simultaneity» findet sich nur in einer (der handgeschriebenen) Liste. ↩
- http://www.moma.org/explore/inside_out/2011/10/20/to-collect ↩
- http://www.performingcraft.com/forms-of-verb-listing ↩
- Yuichiro Kojiro, Forms in Japan, Honolulu 1965. ↩
- Koijro ordnet verschiedene Verben unterschiedlichen Formen zu: «Forms of Unity» («of Continuation», «of Union», «of Collection», «of Arrangement», «of Enclosure»); «Forms of Force» («of Support», «of Curve»); «Forms of Adaption» («of Fluidity», «of the Natural»); «Forms of Change» («of Reduction», «of Twisting», «of Severing», «of Transfiguration»). ↩
- Abb. 6 ↩
- Serras Liste beginnt mit dem Kapitel «Forms of Change» aus Kojiros Buch und folgt dessen Auswahl. Hier und da lässt er ein paar Begriffe aus («of twining», «of dancing», «of shading») und fügt einige dazu («to open», «to mix», «to knot», «to spill»). Insgesamt kommen bei Serra 39 Begriffe neu dazu, die restlichen 69 sind aus Forms in Japan. Während bei Kojiro die Verben jeweils substantiviert aufgeführt sind, benutzt Serra meistens die Infinitivform. ↩
- Roland Barthes, Mythen des Alltags (Anm. 6), S. 283. ↩
- Abb. 7
Abb. 8
↩ - Helmut Draxler, «Eine Kultur der Spaltung. Künstlerische Forschung als Problem», In: Vorliegende Publikation. ↩
- Abb. 9 ↩
- Bildlegende für Abb.1-9: Lucie Kolb, Hi Ho Silver 1-9, 2013. ↩