Kruzifix, Neapel (?), Ende 17. Jahrhundert; Koralle, geschnitzt, Bronze, vergoldet, Email; Christus am Kreuz, nach den Evangelien auf der „Schädelstätte“, dem Berg Golgatha (Totenkopf); KGM Berlin, Inv. Nr. K3846 / Ankauf 1835 aus der Sammlung Karl F. F. von Nagler, Berlin
Christian Imhof
Koralle – Schutz vor dem bösen Blick?
Die im Kruzifix verarbeitete rote Edelkoralle verweist auf den Zusammenhang zwischen christlichem Glauben und Aberglauben, der sich als Volksglaube erhalten hat. Über die griechische Mythologie, die antike Geschichte der Gottheiten, die darin als Schöpfer der Welt beschrieben werden, sind Einflüsse in Form von Mystizismus bis in die Gegenwart überliefert. Die rote Färbung sowie die Eigenschaft der Erhärtung des Materials nach der Abtrennung vom Stamm, verbindet die Koralle mit einem Kapitel dieser antiken Göttergeschichte.
Medusa, die schöne Tochter der Meeresgottheiten Phorkys und Keto und eine der Gorgonen, wurde nach ihrer Vergewaltigung durch Poseidon in einem Tempel der Athene von dieser in ein Ungeheuer verwandelt, das fortan mit seinem grässlichen Anblick jede/n Betrachter*in zu Stein erstarren ließ. Perseus, die andere zentrale Gestalt und Held dieser Geschichte, wurde aufgefordert, Medusa zu enthaupten, was ihm mit Athenes Unterstützung auch gelang. Der Mythos besagt, dass die Koralle ihre Färbung durch das Blut der Medusa erhalten hat, das beim Abschlagen ihres Kopfs durch Perseus ins Meer geflossen ist. Die Göttin Athene heftete daraufhin das Medusenhaupt als Schreckbild und unheilabwehrendes Element auf ihren Schild.
Diese Eigenschaften wurden vom Volksglauben übernommen und beispielsweise im Wappen Siziliens oder bei öffentlichen Brunnen zum Schutz und als Zeichen der Lebenskraft nachgebildet. Wegen ihrer Fähigkeit zur Wandlung vom Vergänglichen zum Beständigen sowie der blutroten Farbe verknüpften die Menschen die Koralle später auch mit den Leiden und der Auferstehung Christi. Im Spätmittelalter und der frühen Renaissance wird sie deshalb oft in religiösen Abbildungen verwendet. Der Glaube an ihre Wirksamkeit gegen den bösen Blick und ihre unheilabwehrende Wirkung überdauerten Jahrhunderte. Im Süden Italiens findet man diese Art des magischen Denkens noch heute in Form der roten Plastikhörnchen ‚Cornicelli’, die – als Massenware verkauft – als Glücksbringer fungieren.
Vanitas – Nichtigkeit und Vergänglichkeit
Die Darstellung des ans Kreuz genagelten Christus bezeichnet man als Kruzifix. Das Kreuz steht im christlichen Glauben auch als Sinnbild für das Opfer Christi, das dieser zur Erlösung der Menschheit gebracht hat. Ein weiteres Sinnbild, das sich auf dem Kruzifix selbst befindet, repräsentiert der kleine Totenkopf unterhalb der Jesusfigur.
Im Barock, dem Zeitalter der Entstehung dieses Objekts, stand der Totenschädel in der Kunst für die Vergänglichkeit der irdischen Existenz. In der Malerei entwickelte sich der Bildtypus des Vanitas-Stilllebens. Der Begriff ‚Vanitas‘ stammt aus dem Lateinischen und lässt sich mit ‚Eitelkeit‘ oder ‚Nichtigkeit‘ übersetzen. In den Vanitas-Stillleben des 17. Jahrhunderts werden Darstellungen lebloser Gegenstände mit unterschiedlichen Sinnbildern verknüpft. Scheinbar beständige Objekte wie Bücher, Musikinstrumente, Geld, Kostbarkeiten sowie Insignien von Macht und Größe verweisen dabei auf den Alltag und das geistige Leben in Kunst und Wissenschaft. Symbole der Vergänglichkeit, wie der Totenschädel, eine Sanduhr, die verlöschende Kerze, welkende Blumen und umgestürzte oder zerbrochene Gläser stehen für die Endlichkeit des Lebens.
Das Nachsinnen über den unvermeidlichen Tod, zur Überwindung der irdischen Eitelkeit im Sinne einer moralischen Selbstreflexion verlangte damals wie heute von dem/der Betrachter*in der Stillleben eine aktive Auseinandersetzung. Eine besondere Relevanz erhielten die Gemälde zu dieser Zeit auch durch Pestepidemien und bedrohliche politische Situationen. Wie könnte ein Vanitas-Stillleben heute, in Zeiten globaler politischer Krisen, klimatischer Veränderungen und Pandemien wohl aussehen?
Den „wahren“ Glauben durch Wissen verbreiten?
Für die Verbreitung des „wahren“ christlichen Glaubens waren die großen Entdeckungsreisen in alle Himmelsrichtungen eine willkommene und intensiv genutzte Möglichkeit. Auf den europäischen Schiffen, die getrieben von Handelsinteressen und Machtansprüchen nach neuen Welten suchten, war der Glaube stets mit an Bord. Die spanischen und portugiesischen Eroberer beförderten religiöse Weltanschauungen, Amtssprachen und soziale Hierarchien in die entlegensten Gegenden der Welt. Die Kolonialisierung bisher unbekannter Gebiete wurde erbarmungslos vorangetrieben und die katholische Kirche unterstützte die Unterwerfung indigener Völker. Ein Mittel dafür war die Gründung von Missionen, um das Evangelium und somit die eigene religiöse Weltanschauung zu verbreiten.
Die 1534 gegründete Ordensgemeinschaft der Jesuiten prägte einen großen Teil dieser Ausdehnung des Glaubens. Neben ihrer bedeutenden Rolle in der europäischen Gegenreformation war sie in ihren globalen Bestrebungen sogar so erfolgreich, dass sie in Paraguay von 1610 bis 1767 einen unabhängigen Jesuitenstaat mit eigener Armee unterhielt. In Ländern wie China, Japan oder Indien konnten die Jesuiten zum Teil auch durch politische Ämter oder Beraterfunktionen für die herrschenden Eliten den Wissenstransfer zwischen den kulturell unterschiedlichen Welten beeinflussen. In solchen Schlüsselpositionen übernahmen und leiteten sie Wissen jedoch nur weiter, wenn es dem eigenen Glauben unmittelbar dienlich war. So brachten sie geografische Informationen, die teils aus chinesischen und japanischen Karten stammten, zurück nach Europa. Solches Wissen bedrohte den eigenen Glauben nicht und wurde deshalb in beide Richtungen verbreitet. Damit ergänzten sie das damalige Weltbild mit noch mehr Detailgenauigkeit und zusätzlichen Kenntnissen über andere Länder und Kulturen.
Anderes Wissen wie das heliozentrische Weltbild von Kopernikus (→Taschenglobus), in dem die Sonne und nicht die Erde das Zentrum des bekannten Universums bildete, wurde zum Beispiel lange Zeit zurückbehalten, um das eigene Weltbild nicht infrage zu stellen.
Gibt es Korallenriffe im Mittelmeer?
Die im Kruzifix verarbeitete Edelkoralle (Corallium rubrum), auch rote Koralle genannt, ist ein Hohltier, das zum Stamm der Nesseltiere gehört. Edelkorallen zeichnen sich durch ein langlebiges und intensiv rot oder rot-orange gefärbtes Skelett aus. Ihr Lebensraum liegt im westlichen und zentralen Mittelmeer und dem angrenzenden Atlantik. Die Edelkoralle gilt als gefährdete Spezies und lebt in Tiefen zwischen 40 und 100 Metern, wo sie zwischen fünf und 30 Zentimeter große Kolonien bildet. Größere Kolonien sind durch die übermäßige Ausbeutung des Menschen für die Schmuckherstellung mittlerweile verschwunden. Ein Zentrum der Korallenschmuckherstellung ist die kleine Stadt Torre del Greco bei Neapel. Dort schufen Kunsthandwerker bereits in der Antike Geschmeide und Opfergaben für die Tempel der Götter.
Der Koralle sagt man aber auch heilende Wirkung nach, in der Alternativmedizin wird heute noch darauf zurückgegriffen. Ihr Skelett besteht zumeist aus Kalk oder Horn oder einer Mischung aus beidem. Als feines Pulver vermahlen, werden daraus Globuli oder eine Tinktur für die homöopathische Behandlung hergestellt, die gegen Bronchitis, Schnupfen und Entzündungen des Nasen-Rachen-Raums helfen sollen. Eine erstaunliche Entdeckung machten Forschende im März 2019 vor der süditalienischen Küste in der Adria. Dort fanden sie in einer Tiefe von 30 bis 55 Metern ein noch unbekanntes 2,5 Kilometer langes Korallenriff. Die rote Edelkoralle gehört jedoch nicht zu den Bewohnern dieses Riffs.