Vorbilder

Gitter, Vorbildermappe Nr. 1452, 2. Hälfte 19. Jahrhundert; KGM Berlin, Archiv

Hannah Spillmann

Das Kunstgewerbemuseum als Vorbilder- und Mustersammlung

Angeregt durch die erste Weltausstellung 1851 in London entstand ein völlig neuer Museumstyp – das Kunstgewerbemuseum. Ziel der Weltausstellung war es, Industrie und Handel zwischen den beteiligten Ländern zu fördern und zugleich nationale Traditionen zu präsentieren. Durch die Zunahme der industriellen Massenproduktion geriet das traditionelle Handwerk in eine bis dahin unbekannte Konkurrenzsituation. Dabei gefährdeten offensichtliche Defizite, wie die katastrophale Qualität der Produkte, die industrielle Wettbewerbsfähigkeit. Somit wurde die Erziehung des Geschmacks der Konsument*innen fortan als eine notwendige öffentliche Aufgabe angesehen.

Im Zusammenhang mit den sozialen Utopien des 19. Jahrhunderts übernahmen die Kunstgewerbemuseen die Aufgabe, den Geschmack von Handwerker*innen, Fabrikant*innen und Konsument*innen zu schulen und das Qualitätsbewusstsein im Handwerk und in der Industrie zu fördern. Dementsprechend entsprach der neuartige Museumstyp der damaligen ökonomischen Notwendigkeit. So legten die Kunstgewerbemuseen Vorbilder- und Mustersammlungen für die Geschmackserziehung an. Die Sammlungen bestanden aus diversen Vorbilder- und Mustermappen, welche in verschiedene Sachgebiete, wie zum Beispiel Glas, Bucheinbände, Kirchengeräte oder auch Schmiedeeisen und Eisenguss eingeteilt waren und als Anschauungsmaterial und stilistische Orientierungshilfe für Handwerksbetriebe und Gewerbe dienten. Heute geben die Vorbildermappen einen Einblick, worüber im 19. Jahrhundert nachgedacht wurde und worin der Geschmack geschult werden sollte. Die Unmengen an Vorbildermappen zeigen nicht zuletzt das Ausmaß und manchmal auch die Absurdität der Geschmackserziehung auf (→Eisenschmuck).

Böse Dinge

„Wollen wir erkennen, worin der gute Geschmack besteht, müssen wir zuerst den schlechten Geschmack beseitigen.“ Gustav E. Pazaurek, 1912

Gustav E. Pazaurek, Vordenker des Deutschen Werkbunds, war der Ansicht, dass mit der industriellen Massenproduktion in Deutschland auch die Zahl der „scheußlichen“ Gegenstände zunimmt. Um das Publikum abzuschrecken und aufzuklären, eröffnete er 1909 die „Abteilung der Geschmacksverirrungen“ im Stuttgarter Landesmuseum. Kurz darauf entwarf er in seinem Werk Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe einen Leitfaden des guten Geschmacks. Darin unterscheidet er zwischen verschiedenen Arten von Verstößen: Verstöße gegen das Material, gegen die Konstruktion und gegen die Verzierung. Dabei spricht Pazaurek unter anderem von „Pimpeleien“, „Naivitäten“ und „Dekorbrutalitäten“. Nicht zuletzt widmet er sich auch dem Begriff des „Kitsches“.

Die von Pazaurek definierten Gegenbilder waren selten Vorbildern direkt gegenübergestellt. Möglicherweise um Verwirrungen oder Irrtümer zu vermeiden, aus Angst, die/der ungebildete Besucher*in könne noch nicht zwischen „gut“ und „böse“ unterscheiden.

Pazaureks Kategorisierung der „Geschmacksverbrechen“ scheint nicht mehr zeitgemäß. Welche Werte stehen heute jedoch zur Diskussion? Im Design wird den Umständen der Herstellung von Ware und dem Zusammenhang von ökonomischen, humanistischen und ökologischen Faktoren vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt und dementsprechend wird Verantwortung übernommen. Können heute somit nicht mehr „Geschmacksverstöße“, sondern Arbeitsbedingungen und Produktionsweisen als „böse“ bezeichnet werden? (→ Paisleykleid) Steht mit diesem Wertewandel eine Erziehung zu verantwortungsbewussten Konsument*innen im Vordergrund? 

Die „Gute Form“

Der Deutsche Werkbund wurde im Jahr 1907 gegründet. Die Vereinigung von Künstler*innen, Architekt*innen, Kunsthandwerker*innen und Unternehmer*innen verfolgte das Ziel einer „Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk durch Erziehung, Propaganda und geschlossene Stellungnahme zu einschlägigen Fragen“.

Die Gründung des Werkbunds stellte zum einen eine Auflehnung gegen den vorherrschenden Historismus und den Kulturverfall der menschlichen Umwelt dar, zum anderen diente sie als Aufruf zur künstlerischen und sozialen Erneuerung. So setzte sich der Deutsche Werkbund zum Ziel, über die Moral der Dinge den Menschen zum Besseren zu erziehen – Design und Ethik gehörten untrennbar zusammen. Zentrales Anliegen war hierfür die Suche nach einer neuen, durch Zweck, Material und Konstruktion bedingten Formgebung – die „Gute Form“. Durch die vom Werkbund propagierte „Gute Form“ sollten zukünftige Konsument*innen zu besseren Menschen und einem bewussten Konsumverhalten erzogen werden. (→ Fernseher)

In den 1950er und 1960er Jahren unternahm der Deutsche Werkbund unter anderem Bestrebungen, Schüler*innen mithilfe von sogenannten Werkbundkisten an die „Gute Form“ heranzuführen und sie für die Gestaltung der Dinge des Alltags zu sensibilisieren. Dies geschah nicht zuletzt in der Absicht, dem Produktangebot gegenüber ein kritisches Urteilsvermögen entwickeln zu können. Die Lehrmittelkisten enthielten Haushaltswaren, welche im Kunst- und Werkunterricht auf ihre formal-ästhetischen Funktionen hin analysiert wurden. Die Holzkisten waren jeweils unterschiedlichen Themen gewidmet, wie zum Beispiel der „gedeckte Tisch“ oder „Küchengeräte“.

Auf der Suche nach Inspiration 

Kunstgewerbemuseen dienten sowohl früher als auch heute als Inspirationsquelle. Nicht zuletzt, da in Gestaltungsprozessen oftmals auf Altes, schon Bestehendes zurückgegriffen wird, dieses schließlich einer Neuinterpretation unterzogen und dem Zeitgeist angepasst wird. Abgesehen von zeitgenössischen Einflüssen, stellt die Archivarbeit somit auch heute noch immer einen wichtigen Bestandteil der Inspirationssuche von Künstler*innen und Designer*innen dar. Insbesondere in der Mode und dem Design ist zu beobachten, wie immer wieder auf frühere Entwürfe zurückgegriffen wird. 

Während in der vordigitalen Zeit der Gang in das Museum und die darin angelegte Muster- und Vorbildersammlung unumgänglich war, bietet heute das Internet unendlich viele Möglichkeiten, um auf die digitale Suche nach Inspiration zu gehen. Von Instagram, über Pinterest bis hin zu Aren.na – unzählige Plattformen erlauben mit einzelnen Suchbegriffen neue Impulse und Anregungen für die eigene Arbeit zu finden. Mit wenigen Klicks bekommt man einen Einblick in globale Gestaltungstendenzen. Gezeigt und vermittelt werden einem dabei auch Atmosphären und Stimmungen. Auch in den Printmedien, wie zum Beispiel der Vogue oder Schöner Wohnen werden Trends in Kontexte eingebettet und Zukunftsprognosen gestellt.