Herkulespokal

Deckelpokal, Gerardus Hüls, zwischen 1715 und 1724; Silber, vergoldet; KGM Berlin, Inv. Nr. W-1962, 34

Yulia Fisch

Von Herkules zu Superman, Kolchosbäuerin und Arbeiter 

Wie sahen die Vorläufer des Superman aus? Wie erkennen wir in aktuellen Bildern deren Vorgeschichte? Was vermitteln uns die Bilder der Held*innen und die Allegorien der Herrscher*innenverehrung?

Der von dem kölnischen Goldschmied Gerardus Hüls entworfene Pokal vereinigt in seiner Dekoration zwei allegorische Darstellungen, die bis heute als Dokumente des gesellschaftlichen Kontextes dienen. Ein gebeugter Mann trägt den Pokal, dessen Deckel von zwei Figurinen – einer jungen Frau und einem Bauern – bekrönt wird. Es ist der Halbgott Herkules, der als Archetyp des antiken, mythischen Helden seit der Renaissance an neuer Bedeutung gewinnt. Er gilt als heroisierendes Sinnbild der fürstlichen Herrschaft. Die griechische Mythologie erzählt die Geschichte eines Übermenschen, der den Gottheiten des Olymp im Kampf gewachsen wäre. Somit wurde die Macht der irdischen Regent*innen auch als eine göttliche verstanden. 

Vor allem die Habsburger begründeten ihre Dynastie und ihren Führungsanspruch auf der antiken Tradition des Herkules. Sie inszenierten sich als tugendhafte, gottgleiche Herrscher und nutzten dafür die Bildenden Künste als Propagandamittel. Unter Karl VI. (1685–1740) erreichte die Herrscher- und Heldenverehrung einen Höhepunkt. Möglicherweise wurde ihm dieser Pokal als „Ehrengeschenk“ durch den Kölner Rat überreicht. 

Der Medienwissenschaftler Umberto Eco erkennt in der Moderne eine Suche nach dem Leitbild, in dem ein Übermensch als Archetyp für Gerechtigkeit sorgt. Als Beispiel nennt er Superman – ein Mann von einem anderen Planeten, welcher der Herkules des 20. Jahrhunderts genannt wird. Supermans Geschichte nimmt ihren Ursprung in der griechischen Mythologie. Das Erscheinen der gleichnamigen Comicserie 1938 war eine Reaktion auf neue gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Krisen. 

Der Deckel des Pokals ist mit der Figur eines Bauern und einer Frau bekrönt, die sinnbildlich für die Reichstreue Kölns stehen. Dieses Sujet wird von der Sowjetunion zwei Jahrhunderte später für die Darstellung des neuen Industriestaates aufgegriffen. Als zukunftsweisendes Symbol für Weltmacht bekrönt die 24 Meter hohe Skulptur der Bildhauerin Wera Muchina den Pavillon der Sowjetunion auf der Weltausstellung 1937. Den Bauern ersetzt ein Arbeiter, und die Frauenfigur neben ihm verkörpert als Kolchosbäuerin das Ideal der jungen Frau in der Sowjetunion. Die Figuren, die ebenfalls von antiken Vorbildern inspiriert sind, repräsentieren eine neue Geschichte: zwei Heroengestalten, die einer glücklichen Zukunft entgegenschreiten. 

Doppelgänger des Originals

Welchen Wert hat das Original in Zeiten der Digitalisierung? Verliert die Materialität des Vorbildes heute an Bedeutung oder werden die haptischen Eigenschaften mehr geschätzt? Welche Funktion erfüllen Originale und Kopien für die Kultur, Geschichte und Gesellschaft? 

In den Depots der Museen spiegeln sich vergangene Geschichten, Sammlungs- und Museumskonzepte wider. Zeugen dieser Entwicklung sind die galvanoplastischen Nachbildungen, die im 19. Jahrhundert in Kunstgewerbemuseen hergestellt wurden. Heutzutage verlassen sie leider kaum ihr stummes ‚Zuhause‘ im Museumsdepot und genießen deshalb kaum noch Anerkennung. Im 19. Jahrhundert aber setzten sich die Kunstgewerbemuseen das Ziel, ihre umfangreichen Sammlungen sowohl für das Publikum als auch für Handwerker*innen zugänglich zu machen. Dafür kam die innovative Galvanotechnik zum Einsatz, die wir heute mit der Einführung des 3D-Drucks vergleichen können. Die Genauigkeit des Verfahrens lässt auf den ersten Blick keine Unterscheidung zwischen vergoldeter oder versilberter Kupferkopie und dem hochwertigen Original zu. 

Die Kopie vervielfacht die Stückzahl des Originals, unterscheidet sich aber dadurch, dass die Spuren des Gebrauchs, die im Original noch als Kratzer oder Metallalterung zu sehen sind, weggelassen wurden. Was passiert mit solchen Objekten, die eine Geschichte und einen symbolischen Wert in sich tragen, wenn eine Kopie davon entsteht? Nachbildungspraktiken und Kopiertätigkeit sind tief in der Geschichte der Kunst verwurzelt und werden schon seit der Antike praktiziert. 

Die Zeit und die technologische Entwicklung tragen dazu bei, dass sich der Wert von Kopien und Originalen – auch von Fälschungen und Repliken – stark wandelt. Das Original übertraf die Kopie erst an Bedeutung, als in der Renaissance die Sammlungskultur in Mode kam. Im Unterschied zu der Fälschung, die das Original nicht nur nachahmte, sondern es ersetzen wollte, trug die Kopie schon damals zu einer Hervorhebung des Originals bei. In der Abgrenzung zur Nachbildung gewann das Original an ideellem und monetärem Wert. Eine weitere Motivation zur Anfertigung von Kopien ist die Ehrung des Originals. Fälschungen werden hingegen aus drei wesentlichen Gründen angefertigt: aus dem Geltungsbedürfnis der/s Täter*in, aus der Vertuschung eines Mangels und schließlich zum Ziel der Bereicherung.  

Als eine Doppelgängerin des Originals hat die Kopie im 20. Jahrhundert eine neue Bedeutung gewonnen. In seinem wegweisenden Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit (1935) schreibt Walter Benjamin über den Verlust der Aura des Originals und die Problematik seiner Verbreitung als Kopie in den neuen Massenmedien Fotografie und Film. 

Die galvanoplastische Sammlung des Berliner Kunstgewerbemuseums

Die im späten 19. Jahrhundert zur Perfektion gebrachte Galvanisiertechnik erlaubte es den kunstgewerblichen Sammlungen, bedeutende Goldschmiedearbeiten aus anderen europäischen Sammlungen in Form von Galvanoplastiken zu kopieren. Museen wie das Berliner Kunstgewerbemuseum richteten sogar eigene galvanoplastische Werkstätten ein und betrieben einen regen Austausch und Handel untereinander. Die Innovation bestand darin, dass man nun dreidimensionale Kunstwerke aus anderen Sammlungen anstatt Bildmaterial ausstellen konnte.

Galvanoplastiken sind eigenständige Metallobjekte, die in extremer Schärfe und Genauigkeit ein Original wiedergeben. Das Prinzip beruht darauf, aus wässrigen Metallsalzlösungen zusammenhängende Metallniederschläge zu gewinnen. Die Galvanos der Berliner Sammlung bestehen meist aus Kupfer, galvanisch versilbert oder vergoldet. Um dem Original zu entsprechen, wurden weitere Goldschmiedetechniken (Email, Stein- und Perlbesatz) umgesetzt. 

Bedeutende Goldschmiedearbeiten wie der Deckelpokal des Goldschmiedes Gerardus Hüls wurden von der Berliner Firma D. Vollgold & Sohn Silberwaren-Fabrik im Jahr 1903 als Galvano nachgebildet. Die hochwertigen Kopien lassen sich von Goldschmiedearbeiten schwer unterscheiden. Ein Erkennungsmerkmal sind winzige Metallperlen auf der Innen- bzw. Rückseite der Objekte. Diese entstehen durch das dendritische (strauchartige) Wachstum des Metallgefüges aus der Lösung. An den Standflächen ist die Vergoldung oft berieben, so dass sich das kupferne Kernmetall erkennen lässt. Auf galvanischem Wege produzierte Kannen und Pokale lassen sich nicht aus einem Stück herstellen. Um eine gleichmäßige Metallabscheidung im Bad zu gewährleisten, dürfen die Negativformen nicht zu stark hinterschnitten sein. Somit setzen sich die Galvanos aus mindestens zwei Hälften zusammen. Die durch das Zusammenlöten entstandenen Nähte auf der Gefäßinnenseite sind ein weiteres Unterscheidungskriterium.

Heute wird die Galvanisiertechnik im musealen Bereich nur noch für numismatische Nachbildungen angewandt. Um dreidimensionale Kopien zu erzeugen, wird auf das berührungslose Scanverfahren zurückgegriffen. Anhand der Messdaten lassen sich großformatige Objekte im 3D-Druckverfahren herstellen. (Wibke Bornkessel)

Propaganda und Fake News. Wie können wir der Geschichte vertrauen? 

Bis heute ist nicht hundertprozentig klar, für wen der Pokal von Hüls gefertigt wurde. Viele historische und ikonographische Hinweise lassen vermuten, dass er als Huldigungsgeschenk für Karl VI. hergestellt wurde. Die Idee der Heroisierung von Machthaber*innen zieht sich als Konstante durch die Geschichte der Politik und der Bildenden Künste. Vor allem Münzen, Medaillen, Skulpturen, Malerei und angewandte Künste dienen als Medien der Verbreitung einer politischen Agenda. Später wird Propaganda in Plakaten, Fotografie und Film, und schließlich in sozialen Netzwerken visualisiert.  

Die reiche Dekoration des Pokals mit Laubwerkornament, Fruchtbündeln, Blüten und der Darstellung kölnischer Heiliger im zentralen Medaillon spiegelt den gesellschaftlichen Kontext der Zeit wider: Nachdem die Habsburger im Zuge des Venezianisch-Österreichischen Türkenkriegs 1717 ihr Territorium expandieren konnten, verstärkte sich der Einfluss ihrer Herrschaft im Reich. 

Die Propaganda wird in einem Gegenstand gespeichert und geht so in die Geschichte ein. Sie dient dem Zweck, ein Narrativ zu manipulieren und dadurch die Macht der Herrschenden zu verstärken. Heute sind die gesellschaftlichen und politischen Prozesse in den Informationsmedien (→Fernseher) gespeichert und dienen als Dokumente der Zeit. Mit dem Siegeszug der sozialen Netzwerke haben die Menschen einerseits Macht und Bestimmungsrecht zurückgewonnen, andererseits aber gewisse Verluste erfahren. Der Historiker Yuval Noah Harari schreibt: “In fact, humans have always lived in the age of post-truth. Homo sapiens is a post-truth species, whose power depends on creating and believing fictions.” Die Liberalisierung der Mittel, mit denen Informationen übertragen werden, führte zum Verlust der Objektivität. 

Während in der Geschichte Objekte und Kunstwerke als Mittel verwendet wurden, um das Denken der Menschen zu manipulieren und Unwahrheiten zu verbreiten, nehmen heute ‚Fake News‘ diese Position an. Fake News – Berichte, die glaubwürdig erscheinen, aber Unwahrheiten beinhalten– sind ein Phänomen der heutigen Zeit und dienen unter anderem Propagandazwecken. Sie nutzen die Gefühle der Gesellschaft aus und bewirken Störungen in der Wahrnehmung. Die Verbreitung dieser Informationen beruht auf den Funktionsweisen der sozialen Medien. Menschen haben dort ein gesellschaftliches Modell erschaffen, in dem sie die Inhalte selbst produzieren, während sie gleichzeitig ein vorgefertigtes Muster nachahmen. Basierend auf dem Musterfall und auf einem politischen oder gesellschaftlichen Ereignis werden Fake News als eine Realitätsmanipulation genutzt – wie früher bei den Abbildungen der Machthaber*innen. Fake News sähen Zweifel und führen zu Vertrauensverlust.