Schachspiel

Brettspiel (Spielkasten) – teilweise geöffnete Fächer, aus dem „Pommerschen Kunstschrank“ (1611–1617) des Augsburger Unternehmers Philipp Hainhofer für Herzog Philipp II. von Pommern, vor 1615, Herstellungsort: Augsburg; Silber, Perlmutt, Elfenbein, verschiedene Holzsorten, Glas; KGM Berlin, Inv. Nr. P 77 © bpk, Kunstmuseum, SMB, Helge Mundt

Yulia Fisch 

Theatrum Mundi – Die Welt als Bühne 

„Die Welt ist ein Puzzle aus vielen Fragmenten, und jede neue Erkenntnis vermehrt die Fragmente, die man allerdings immer genauer beschreiben kann.“ Hans Holländer

Seit der Antike streben Wissenschaftler*innen und Künstler*innen danach, die Welt in ihren Zusammenhängen zu begreifen und dieses fragmentarische Wissen in einer verkleinerten Version darzustellen. Diese Suche hat sich in der Renaissance in einem Schachbrett niedergeschlagen – das Spielfeld als Bühne desLebens und Abbild des Kosmos. Das Schachspiel stammt aus dem Pommerschen Kunstschrank, den der Augsburger Unternehmer Philipp Hainhofer (1578–1647) in Kooperation mit zahlreichen Gelehrten, Künstlern und Handwerkern entwickelt und realisiert hat. Die vier Ecken des Bretts stehen für die vier Himmelsrichtungen und sind mit Allegorien der vier damals bekannten Erdteile verziert: Europa, Asien, Amerika, Afrika. 

Der Pommersche Kunstschrank funktionierte wie die Miniatur eines Theaters des Wissens. In den vielen Schubladen wurden Objekte aus den Bereichen Astrologie, Anatomie, Kriegskunst, aber auch Mechanik oder Mathematik gesammelt, um eine möglichst vollständige Simulation der Welt auf kleinem Raum zu erschaffen. Das Konzept des „Theatrum Mundi“ geht auf den italienischen Gelehrten Giulio Camillo (1480–1544) zurück. Er entwarf das „Welttheater“ als ein philosophisches Konzept, als eine Denkplattform, auf der die Zuschauer*innen im Zentrum des Schauspiels des Wissens und der Erinnerungen stehen und vom Universum umkreist werden. An die Stelle der Kunstkammer als Hilfsmittel zur Erweiterung des eigenen Wissens ist heute der Laptop getreten. Er ‚vereinigt‘ die ganze Welt und alles Wissen in einem einzigen Objekt. 

Das Schauspiel der Ereignisse, die sich auf dem Schachbrett entfalten, hat der Künstler Marcel Duchamp in seinem Garten mit realen Menschen als Schachfiguren inszeniert. Der Komponist John Cage teilte Duchamps Meinung, Musik sei ein Ereignis in der Stille. Das führte ihn zu Experimenten mit den Zahlen, die im Schachspiel die Züge beschreiben. Er las die Zahlen als Noten und konzipierte so ein Musikstück. Der zeitgenössische Künstler Guido van der Werwe (*1977) entwickelte diese Idee weiter. Die schwarzen und weißen Felder des Schachbretts wiederholen die Ordnung der weißen und schwarzen Tasten des Klaviers. Um das sogenannte Schachklavier zu aktivieren, spielte van der Werwe eine Partie gegen den Schachgroßmeister Leonid Yuldaschev, die wiederum zu einem Musikstück wurde. Dies erinnert an Marcel Duchamp’s Credo: “While all artists are not chess players, all chess players are artists.”

Die verkehrte Welt und die Schulung des menschlichen Geistes 

Das Schachspiel kam an den europäischen Höfen seit dem 12. und 13. Jahrhundert in Mode und besaß zugleich eine große gesellschaftliche Bedeutung. In der mittelalterlichen Dichtung müssen Helden wie Tristan oder Parzival neben allen anderen Künsten und Disziplinen auch das Schachspiel als eine Form des Zweikampfs erlernen. Eine Schachpartie diente als unmittelbares Abenteuer und wurde als Modell der Heldenreise verstanden. Denn das im Schach geforderte logische und strategische Denken trug dazu bei, dass ein Held die ‚Lebenswissenschaft‘ aus dem Spiel erlernte. Es wurde als ein Erziehungsinstrument verstanden, das die besten menschlichen Fähigkeiten enthüllt und weiterbildet. Das ideale Ergebnis war eine Person, die dem Vorbild des Menschen in der Renaissance entsprach. Auch Herzog Philipp II. von Pommern betrachtete das Schachspiel als eine Art der guten Bildung, die zur Ertüchtigung des menschlichen Geistes beitragen sollte. In dem Sinne startete er eine Initiative, das Spiel auf den Schullehrplan zu setzen. 

Viele Schachbretter der Renaissance wurden mit belehrenden Sprüchen oder Abbildungen versehen. Nach dem Erscheinen der einflussreichen Moralsatire Das Narrenschiff  (1494) von Sebastian Brant (1457/1458–1521) fanden Darstellungen närrischen Verhaltens oder der ‚Verkehrten Welt‘ weite Verbreitung in den bildenden Künsten. Die Figur des Narren diente als ein Gegenbild der menschlichen Tugenden. Unbildung galt als schwere Sünde. Dazu kamen zahlreiche weitere menschliche Fehler und Schwächen, die direkt zur Hölle führten.  

Auf der Spielfläche des Schachspiels aus dem Pommerschen Kunstschrank sind kleine Bilder zu erkennen: Menschen bei kuriosen Tätigkeiten oder Tiere, die menschliches Verhalten nachäffen. Die Bilder verkörpern Sprichworte wie „Wenn der Fuchs die Gänse lehrt, er den Kragen als Lehrgeld begehrt“ oder „Durchs Sieb fallen“. Die dargestellten ‚sinnlosen‘ Tätigkeiten sollten als moralische Warnungen und Denkanstöße auf den Menschen wirken. Der Anblick von Tieren, die Menschen nachahmen, sollte bei den Spieler*innen Unbehagen wecken und ein Nachdenken über die von Sünden überfüllte Welt hervorrufen.

Lernmaschinen und künstliche Intelligenz (KI)

Die Vorstellung einer eigenständig handelnden Maschine hat Menschen immer wieder zu Versuchen herausgefordert, Intelligenz künstlich herzustellen. Dieses Streben nach dem perfekten Menschen jenseits körperlicher Einschränkungen oder gehemmter Intelligenz führte im 18. Jahrhundert zu den berühmt gewordenen Experimenten mit kybernetischen Automaten von Jacques de Vaucanson (1708–1782). Er erfand zum Beispiel einen mechanischen Flötenspieler, der nicht nur die Bewegungen eines menschlichen Arms wiederholte, sondern auch mit echter Haut überzogene Bauteile enthielt. Die Vereinigung von fehlerlosen Maschinen und menschlicher Intelligenz sollte den Traum von absoluter Macht und Fortschritt erfüllen. Mit einem Schachspielautomaten, dem sogenannten Schachtürken, erschuf der Ingenieur Wolfgang von Kempelen 1769 die seinerzeit perfekte Illusion einer denkenden Maschine und stimulierte damit die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der Mechanik und das Verhältnis zwischen Mensch und Technik.

Seit den 1970er Jahren diente die Logik des Schachspiels als Vorbild und Referenz für wichtige Bereiche der Computerentwicklung. Diese wurde im 21. Jahrhundert bei der Erforschung von künstlichen Intelligenzen weiter vorangetrieben. Weil die für das Schachspielen erforderliche Intelligenz trainiert werden kann, wurde Schach als ein Instrument für die Schulung künstlicher Intelligenzen benutzt. Inzwischen gibt es immer ausgereiftere Programme, die während des Spiels von den Schachzügen der Gegner*innen lernen. Inzwischen können moderne Schach-KIs mehr als 300 Millionen Züge pro Sekunde berechnen. 

Die Kriege und Widerstände auf dem Schachbrett 

Einer Legende nach wurde Schach von dem griechischen Heros Palamedes erfunden, damit sich die Soldaten vor Troja in den Gefechtspausen beschäftigen konnten. Seitdem wurde der Krieg auch auf das Schachbrett projiziert. Jede Figur steht in Abhängigkeit zu einer anderen, so wie König*innen im Krieg von ihrer Armee abhängig waren. Die Hierarchie der Figuren sowie deren Benennung und Spielstrategien wurden im Verlauf der Geschichte unterschiedlich definiert. Die Französische Revolution wollte ihre Errungenschaften auch in den Regeln des Schachspiels festhalten. Die Namen der Figuren erinnerten noch an alte aristokratische Ideen. Der Nationalkonvent veranlasste, dass der König sowohl vom Schachbrett als auch aus der Geschichte verdrängt werden sollte. Neue Namensvorschläge für die Figur waren „Fahne“ oder „Panier“. Dame, Springer und die Türme sollten eine militärische Benennung erhalten, was das Ansehen des Spiels in der Armee erhöhen sollte. Diese Vorschläge trafen in Frankreich auf großen Widerstand, weshalb die Umbenennung nie durchgesetzt wurde. Die Spielstrategie veränderte sich zwischen Aufklärung und Romantik: An Stelle des einzelnen Menschen als Zentrum des Universums und die Abbildung dieser Idee in der Gestalt des Ritters, entwickelte sich in der Romantik eine neue Denkweise, in der die Bauern an Bedeutung gewannen.  

Als Machtspiel hat Schach auch in der Zeit des Kalten Kriegs eine Spur hinterlassen. Die Sowjetunion verstand das Schachspiel neben dem Sport als ein grundsätzliches Mittel im Kampf gegen die dekadente westliche Kultur. Die Vertreter von Ost und West trafen sich mehrmals auf den 65 Feldern des Schachspiels. 1972 kam es in Reykjavík zum großen Duell zwischen dem US-amerikanischen Schachspieler Robert Fischer und dem russischen Weltmeister Boris Spasski – ein Kampf der Nationen. Fischers Sieg war ein gewaltiger Triumph für die Amerikaner und eine Katastrophe für die schachbegeisterten Sowjets.