Paisleykleid

Tageskleid, England, um 1845; Wolle, Leinwandbindung, Musselin, bedruckt; Futter: Baumwolle und Leinen, Seidenband; KGM Berlin, Inv. Nr. 2003, KR 255 / Kauf 2003 aus der Sammlung Kramer/Ruf; 1998 Auktion, Salisbury

Angeli Sachs

Das „Paisleymuster“

Das sogenannte Paisleymuster ist ein tränenförmiges Stoffmuster mit gebogener Spitze, das eine stilisierte Pflanze mit Wurzel, Stengel und einem herabhängenden Blütenkopf darstellt. Es stammt ursprünglich wohl von den babylonischen Chaldäern (Südmesopotamien, erstmals um 883 v. Chr. erwähnt) und repräsentiert den Spross der für die dortige Kultur lebenswichtigen Dattelpalme. Andere Quellen vermuten, dass das Muster aus der Achämeniden-Ära (altpersisches Reich, ca. 550–330 v. Chr.) stammt und von der Zypresse abgeleitet ist. Von dort verbreitete es sich vor allem nach Indien, aber auch nach Europa, wo es allerdings von den klassischen griechischen und römischen Motiven verdrängt wurde. Im frühen 18. Jahrhundert transformierte es sich zum indo-persischen Boteh-Muster (Hindi: buta, Blume), das im Verlauf seiner weiteren Entwicklung zunehmend abstrahiert wurde.

In Indien wurden seit dem späten 17. Jahrhundert in aufwendiger Handarbeit Kaschmirschals gefertigt, in denen das Boteh-Muster verwendet wurde. Diese kostbaren Stücke, deren Herstellung oft mehrere Jahre dauerte, wurden zuerst von Angehörigen der 1600 gegründeten britischen East India Company nach England gebracht und verbreiteten sich durch den globalen Handel auch in andere Länder Europas wie Frankreich. Dort wurde der Hype um sie ausgelöst, als Napoleon Kaiserin Josephine einen Kaschmirschal schenkte und sie in der Folge mehr als 60 Exemplare sammelte. Ab ca. 1800 wurden sie zu einem unverzichtbaren Accessoire für vermögende Modeliebhaberinnen, die sie „als Wärmespender und Blickfang“ über ihre neoklassischen Empirekleider aus Musselin drapierten. Um dem europäischen Geschmack noch besser zu entsprechen, entwickelten westliche Entwerfer das Muster weiter, das nach Indien gesandt und dort von den indischen Webern reinterpretiert wurde. Dieser ost-westliche Austausch wurde ein solcher Erfolg, dass das immer elaboriertere Paisleymuster bis 1870 populär blieb, bis die Paisleyschals durch die Einführung der Turnüre (ein das Gesäß betonendes Polster) außer Mode kamen. 

Aber seitdem hat das Paisleymuster unzählige Revivals erlebt und ist auch in der aktuellen Mode zu finden. Denn was ursprünglich ein handgewirktes Motiv, vor allem an den Bordüren indischer Kaschmirschals, war – und dort bis heute eine lebendige Tradition ist – wurde im Westen ab ca. 1780 für weit kostengünstigere gewebte Imitationen oder Stoffdrucke adaptiert. Der gängige Name des Musters im englischsprachigen Kontext stammt von der Industriestadt Paisley in der Strathclyde Region westlich von Glasgow in Schottland, die von ca. 1814 bis 1870 eines der führenden Zentren in der Nachahmung indischer Kaschmirschals war. 

(Roh-)Stoffe: Baumwolle

Kleiderstoffe waren vor der Erfindung von synthetischen Fasern (1892) vor allem aus Wolle, Seide, Baumwolle und Leinen. In Europa wurden Baumwollstoffe zuerst im 17. Jahrhundert von portugiesischen Händlern von ihren Reisen nach Südostasien mitgebracht. Da sie aufgrund ihrer Qualität, Farben und Muster auf großen Anklang stießen, wurden sie in der Folge trotz anfänglicher Widerstände der einheimischen Woll- und Seidenfabrikanten ein bedeutender Teil der Aktivitäten von internationalen Handelsgesellschaften wie der britischen East India Company (ab 1600), der niederländischen Vereenigde Oostindische Compagnie (ab 1602) und der französischen Compagnie française des Indes orientales (ab 1664). Dazu gehörte auch wieder die Transformation indischer Muster nach europäischen Vorstellungen.

Aber ähnlich wie beim Paisleymuster inspirierten auch die aus Indien eingeführten Baumwollstoffe die europäische Textilproduktion, wie die Entwicklung der Textildruckerei ab dem 18. Jahrhundert. Die Baumwollindustrie war im 19. Jahrhundert Großbritanniens wichtigste Textilindustrie, und Baumwolle wurde von einer „Luxusfaser“ zu einem erschwinglichen Rohstoff. Die Mechanisierung des Spinnprozesses und der Übergang von Handwebstühlen zu Webmaschinen in den 1830er bis 1840er Jahren erhöhte die Qualität und Schnelligkeit der Produktion, was wiederum zur Senkung der Preise führte und den Briten so einen enormen Wettbewerbsvorteil verschaffte. Zwischen 1816 und 1850 machten Produkte aus Baumwolle ca. 50 Prozent des Werts der britischen Exporte aus. Sie wurden weltweit verkauft und zerstörten Indiens jahrhundertealte Textilproduktion, die zuerst Lieferantin und Anregerin gewesen war.

Um die Produktionsstätten im Norden Englands sowie von Glasgow und Paisley in Schottland zu versorgen, wuchs der Import des Rohmaterials Baumwolle von 1785 bis 1850 um das über 50fache. Ab dem frühen 19. Jahrhundert waren die USA, wo der Anbau von Sorten aus der Alten und der Neuen Welt seit dem 16. Jahrhundert betrieben wurde, der Hauptlieferant für Baumwolle nach Großbritannien. Der amerikanische Baumwollanbau basierte auf dem System der Plantagenwirtschaft und Sklaverei (→Taschenglobus). „Diese Verzahnung von rohstofforientierter Kolonialwirtschaft und zunehmender Industrialisierung in Europa setzte sich“, laut Sebastian Jobs, „bis zur endgültigen Abschaffung der Sklaverei in Europa und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fort. Bis zum amerikanischen Bürgerkrieg (1861–65) landete die hochprofitable Baumwolle von den Plantagen in Georgia und Mississippi in den neu entstehenden Textilmühlen Englands und machte damit sowohl Unternehmer wie Verbraucher in Europa zumindest indirekt zu Komplizen der Sklavenwirtschaft des amerikanischen Südens.“

Vom Handwerk zur Industriellen Revolution

Die Entwicklung vom importierten indischen Kaschmirschal als luxuriöses Modeaccessoire zu einem reichen Angebot an Imitationen von Paisleyschals europäischer Herkunft, die in Paisley zuerst von selbständigen Webern handwerklich auf dem Zugwebstuhl und ab Mitte der 1820er Jahre zunehmend industriell von Fabrikarbeiter*innen auf dem Jacquard-Webstuhl produziert wurden, fällt zusammen mit der Industriellen Revolution in England (ca. 1750–1850). Die Voraussetzungen dafür waren laut Jürgen Osterhammel ein großes nationales Wirtschaftsgebiet mit günstigen Transportbedingungen, ein umfangreiches, teilweise koloniales, überseeisches Handelsnetz in Bezug auf Rohstoffe und Absatzmärkte, eine produktive Landwirtschaft, Tradition der Feinmechanik und Werkzeugmacherei sowie eine an Innovation und Unternehmertum interessierte Gesellschaft. Aufgrund des wirtschaftlichen Wachstums im 18. Jahrhundert hatte sich zudem ein Markt für Konsumgüter des „gehobenen Bedarfs“ entwickelt. 

Der Textilindustrie kommt in der Industriellen Revolution dabei eine Schlüsselrolle zu. Entscheidende Faktoren waren die Mechanisierung der Handarbeit in einem arbeitsteiligen Fabriksystem, der Einsatz der Dampfmaschine und die Nutzung von Kohle als Energiequelle. Technische Erfindungen wie die Spinnmaschine (Spinning Jenny, 1764), die Stoffdruckmaschine mit Metallwalzen (1785), die Egreniermaschine (Cotton Gin, 1793) sowie die Einführung der Jacquard-Steuerung mithilfe eines Lochkartensystems für Webstühle ab Beginn des 19. Jahrhunderts, veränderten die Produktion von Textilien. Die Konsequenz war eine enorme Produktivitätssteigerung und breite Verfügbarkeit der Erzeugnisse, die Kehrseite eine Minderung ihrer Qualität. Dies führte wie im Arts and Crafts Movement zu alternativen Konzepten „der Verbindung zwischen Kunst, Gesellschaft und Arbeit“. Einer ihrer wichtigsten Protagonisten, der englische Gestalter, Schriftsteller und sozialistische Aktivist William Morris verstand seine Arbeit als Gegenentwurf zur Industrialisierung. In seiner Auffassung sollte wirkliche Kunst „von Menschen für Menschen, eine Quelle des Glücks für den Hersteller und Nutzer“ sein. Seine Entwürfe setzten einen deutlichen Kontrast zu der mangelhaften Qualität industriell hergestellter Produkte dieser Zeit und waren weit über Großbritannien hinaus von nachhaltigem Einfluss auf die Entwicklung des Kunsthandwerks (→Vorbilder).

Die Schattenseiten der Industrialisierung

Die negativen Begleiterscheinungen der Industriellen Revolution, besonders der Textilindustrie, waren miserable Arbeitsbedingungen, Ausbeutung, auch von Kindern, Umweltverschmutzung und Verelendung der Arbeiter*innen. 1804 schrieb William Blake in seinem populären Gedicht And did those feet in ancient time mit Verweis auf die Textilfabriken (mills): “And did the Countenance Divine / Shine forth upon our clouded hills? / And was Jerusalem builded here / Among these dark Satanic mills?” Auch Friedrich Engels hat 1845 in seiner Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England die unhaltbare Situation anschaulich beschrieben. Die kapitalistische Produktionsweise und ihre Auswirkungen führten zu scharfen gesellschaftlichen Gegensätzen, Widerständen und Protesten. Ab 1802 wurde vom britischen Parlament eine Reihe von „factory acts“ zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen erlassen, deren Wirksamkeit allerdings begrenzt blieb. Ab den 1830er Jahren entwickelten sich Gewerkschaften gegen die „Tyrannei der Meister und Fabrikbesitzer“. 

Aber es gab auch Reformbestrebungen von Unternehmerseite, in denen sich das soziale Engagement allerdings mit paternalistischen Zügen mischte. Ein bekanntes Modellprojekt ist die in Schottland gelegene Baumwollfabrik New Lanark, in der Robert Owen von 1800 bis 1825 verbesserte Arbeits-, Lebens- und Bildungsbedingungen für die Arbeiter*innen inklusive eines „Institute for the Formation of Character“ einführte. Ein anderes Beispiel ist die 1851 vom Textilfabrikanten Sir Titus Salt gegründete viktorianische Mustersiedlung Saltaire in West Yorkshire, wo er um die neuerrichtete Fabrik Salts Mill eine Siedlung mit Gemeinschaftseinrichtungen für die etwa 3000 Arbeiter*innen und ihre Familien „nach den damals modernsten sozialen und sanitären Grundsätzen“ erstellen ließ. 

Im 20. und 21. Jahrhundert hat sich mit der Verlagerung vieler Fabriken und der dort geleisteten körperlichen Arbeit von den Industrienationen in Schwellen- und Entwicklungsländer der Begriff der Produktion verändert. Da die moderne Wirtschaft „auf einem konstanten Wachstum der Produktion“ basiert, leben wir laut Yuval Noah Harari in einem „Shopping-Zeitalter“, in dem der Konsum neuer Produkte permanent stimuliert wird. Das 2013 eingestürzte Fabrikgebäude Rana Plaza in Bangladesh ist zu einem erschütternden Symbol für die mangelhaften Produktionsbedingungen, die Ausbeutung und unzureichende Absicherung von Arbeitskräften geworden, die diese Waren herstellen. Aber hat sich seitdem irgendetwas geändert? Die Arbeit wird weiterhin dahin ausgelagert, wo die Arbeitsbedingungen und die Löhne von Arbeiter*innen für die Produzenten am günstigsten sind – sei es in Asien, Afrika oder in europäischen Sweatshops wie im italienischen Prato oder englischen Leicester.