Stühle

Hocker, Ägypten, Neues Reich (1539–1077 v. Chr.); Holz, geschnitzt, Tierfell, geflochten; KGM Berlin, Inv. Nr. 1868, 1403 / Geschenk des Khediven von Ägypten Ismail Pascha

Claudia Banz

Ägypten in Europa

Dieser schlichte Hocker aus Ägypten besitzt eine spannende Provenienz: Laut Inventar kam er 1868 als Teil einer umfangreichen Schenkung des Khediven von Ägypten Ismail Pascha in die Sammlung des Berliner Kunstgewerbemuseums. Die Erforschung der Hintergründe dieser Schenkung steht noch aus, jedoch steht sie offensichtlich im Kontext preußisch-ägyptischer Diplomatie und Politik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Ismail Pascha trat mit dem Ziel an, Ägypten, das zu dieser Zeit noch zum Osmanischen Reich gehörte, in ein modernes Land nach europäischem Maßstab zu transformieren. Zentraler Ausdruck seines Machtstrebens war die spektakuläre Eröffnung des Suezkanals (1869) und der Ausbau von Kairo zu einer zeitgenössischen Stadt nach Pariser Vorbild. Hierfür beauftragte er neben zahlreichen internationalen Architekten auch den Berliner Carl von Diebitsch, der den Eisenkunstguss als preußische Innovation nach Ägypten exportierte. 

Auf Einladung von Napoleon III. nahm der Vizekönig an der Pariser Weltausstellung 1867 teil. Hier ließ er der staunenden Weltöffentlichkeit Zeugnisse der ägyptischen Hochkultur präsentieren. Mit spektakulären Architekturen, darunter zwei Tempelbauten sowie einer Allee der Sphinxe zählte der ägyptische Park zu den Höhepunkten. 1869 beauftragte er den österreichischen Architekten Julius Franz mit dem Bau eines Museums für arabische Kunst, das 1881 in Kairo eröffnet wurde.

Der Hocker lässt sich möglicherweise in das Neue Reich datieren und ist damit über 3000 Jahre alt. Darauf deuten die Bearbeitungsform der Beine sowie die Art der Steckverbindungen der vier Beine mit den Verstrebungen der Sitzfläche hin. Er bildet den aufschlussreichen Mosaikstein einer Strategie des ägyptischen Vizekönigs, seinen Machtanspruch sowie seine politische Autonomie auch auf kultureller Ebene über Schenkungen und wertvolle Leihgaben für Sonderausstellungen an europäische Museen zu festigen. Im damaligen Preußen traf Ismail Pascha damit den Nerv der Zeit: Spätestens seit der von König Friedrich Wilhelm IV. nachhaltig finanzierten Expedition nach Ägypten von 1842 bis 1845 wuchs ein großes Interesse an der Erforschung der pharaonischen Kultur. Berlin avancierte zum wichtigen Standort der Ägyptologie, die sich dort als neue Disziplin etablierte.

Design und Orientalismus

Im 19. Jahrhundert eroberte der sogenannte ‚Orient‘ die europäischen Städte: Von London bis Florenz, von Paris bis St. Petersburg entstanden öffentliche und private Bauten im pseudo-maurischen Stil. Auch orientalisierende Interieurs erfreuten sich bei Adeligen und der wohlhabenden Oberschicht großer Beliebtheit und zeugten von einem kosmopolitisch gebildeten Geschmack. Zu den wichtigsten Inspirationsquellen gehörte das islamische Spanien, vor allem die Alhambra, deren Architektur ausführlich studiert wurde. In seinem einflussreichen Buch Grammar Of Ornament (1856) pries Owen Jones die Alhambra enthusiastisch als Kulminationspunkt der maurischen Kunst und Ornamentik, unübertroffen in ihrer universellen Harmonie und Schönheit. Julius Lessing, der erste Direktor des Berliner Kunstgewerbemuseums, schreibt nach dem Besuch der Wiener Weltausstellung 1873 „Gegenüber der Armut und der Unfruchtbarkeit unserer eigenen, durch die Maschinenarbeit ausgedörrten Erfindungskraft erschließt sich dem Blicke des nach künstlerischen Mustern Suchenden in den Schätzen des Orients eine unendliche Fülle naturfrischer, farbenglänzender und formensicherer Produktionen.“ Die orientalische Kultur und Kunst lieferte das perfekte Modell für die dringend anstehende Designreform, die durch die neu gegründeten Kunstgewerbemuseen europaweit verbreitet wurde. Der ‚Orient‘ als klar definierter geografischer Raum hat jedoch niemals existiert. Wie Edward Said es in seinem wegweisenden Werk Orientalism (1987) analysiert, handelt es sich um eine imaginäre Konstruktion, eine Projektionsfläche für westliche Phantasien, koloniale Politik und hegemoniale Machtansprüche. 

Die Möbel des italienischen Designers Carlo Bugatti reflektieren diese Ambivalenz der ‚Orient-Mode‘ auf komplexe Weise: In ihrer hybriden Formensprache aus einer Mischung orientalisierender und japanischer Stilelemente visualisieren sie eine fiktive exotische Kultur der ‚Anderen‘. Gleichzeitig entsprechen sie der zeitgenössischen Forderung der Designreformer, die eigenen Entwürfe aus dem Geist des ‚orientalischen‘ Ornaments zu erneuern.

Groteske: von der Kunst zum Ornament

Ein ornamentales Mischwesen mit menschlichen Zügen bildet die Rückenlehne dieses sogenannten Brettstuhls. Solche exotisch anmutenden Stilelemente kamen im 16. Jahrhundert in Europa in Mode. Sie sind das Produkt eines kulturellen Aneignungsprozesses, der zunächst zur Entstehung der neuen Kunstform der Groteske führte, die später zum reinen Ornament in den angewandten Künsten mutierte. 

Der Name geht auf das italienische Wort ,grottesco‘ zurück und spielt auf den unterirdischen Fundort spätrömischer Wandmalereien an, die 1480 bei Ausgrabungen von Resten der Domus Aurea (Goldenes Haus) von Kaiser Nero aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. in Rom wiederentdeckt wurden. Diese dekorativen Wandmalereien inspirierten die Künstler*innen der Renaissance und eröffneten ihnen ein neues Feld künstlerischer Freiheit. Die Groteske ist ambivalent und vieldeutig: Sie entspringt dem Reich der Phantasie, bringt Gegensätze und Verwandtes, organische und anorganische Motive zusammen. Die Groteske verkehrt und verdreht, verschmilzt das Monströse mit dem Rätselhaften.

Parallel zur Entdeckung der Domus Aurea wurde 1505 die Hieroglyphica des spätantiken Philosophen Horapollo veröffentlicht, nachdem dieses, aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. stammende Manuskript zuvor auf einer griechischen Insel wiederentdeckt worden war. Es handelt sich um eine Art Lexikon, in dem die Bedeutung von 189 ägyptischen Hieroglyphen erklärt wird. Auch wenn die Echtheit dieser Handschrift längst angezweifelt wird, so erfreute sie sich in den Renaissancezirkeln der Humanisten größter Beliebtheit. Die Auseinandersetzung mit der unbekannten Bildsprache der Hieroglyphen regte die Erfindung neuer Grotesken an, beide wurden miteinander kombiniert. Künstler*innen und Gelehrte waren auf der Suche nach den Mysterien, dem Unbekannten und Fremden. In der Form grotesker Embleme erlebte diese Suche eine bildhafte Verdichtung.

Der niederländische Architekt und Maler Hans Vredeman de Vries (1527–1609) legte mit seinem 1555 veröffentlichten Buch Grottescho in diversche manieren den Grundstein für eine massenhafte Verbreitung grotesker Bilder, die er auch auf Entwürfe für Architekturen, Inneneinrichtungen und Möbel übertrug. Als Druckgrafik in ganz Nordeuropa vertrieben, sorgten sie für eine schnelle Verbreitung der neuen Formensprache, die dadurch auch in die Vorlagebücher für Möbeltischler gelangte.