Muss man sich Sorgen machen um die Männer der Zunft? An diesem Abend des ersten Studienjahres Szenografie sowie Theaterpädagogik sind ausschliesslich Frauen zu sehen, auch die Dozierenden sind weiblich: Mira Sack und Barbara Liebster. Und würde mir das auffallen, wenn es umgekehrt wäre, nur Männer auf und hinter der Bühne stünden? Ich denke: ja, ich hätte es andersrum bemerkt. Die gesteigerte Sensibilität gegenüber Dingen, die man im Alltag nicht immer sofort warhrnimt, hat auch mit den Themen des Abends zu tun. Es geht um Erfahrungen der Abweichung, so will mir scheinen. Erst erhalte ich eine Karte mit spiegelverkehrter Leuchtschrift, die mir, kaum betrete ich den von Installationen bespielten Raum, zwei «Translatoren» entschlüsseln helfen (obwohl ich sie auch so lesen kann: «kenne ich mich?», steht da). Und dann geht es bereits rund am Tisch, an dem «Tabu» gespielt wird. Man muss Begriffe umschreiben, ohne gewisse Wörter zu gebrauchen. Also «homosexueller Mensch» ohne Sex und ohne Mann oder Frau. Oder «Mensch mit Trisomie 21» natürlich ohne «mongoloid». Ob die Übersetzerin für Gebärdensprache, die den ganzen Abend übersetzt, da auch schon zugegen war und das Gespräch dolmetschte, weiss ich nicht mehr.
Installation oder Theaterabend?
Daneben hängen Notizhefte von der Decke, vollgeschriebene. Ich habe zu lange «Tabu» gespielt, es bleibt keine Zeit, um Tagebücher zu lesen. Daran anschliessend: Eine Installation aus Eiszapfen, die in Eimer tropfen. Die Zeit bleibt hörbar. Doch dann folgt ein Reigen von Szenen, mal nummernhaft, mal figürlich, mal mehr in Richtung Performance. Ein Kopf wird in ein Aquarium getaucht, um anders zu hören, Farbe in Wasser getaucht, um anders zu sehen, das Publikum soll oder muss die Augen schliessen und wird an der Hand genommen, wir sehen Versuchsanordnungen der Körperexpansion und solche, die die Monotonie einer immergleichen Struktur abbilden. Und einmal hören wir auch vom Scheitern an der Aufgabe. Die Form ist streng, der Blick wird zentriert – ich bin von einer offenen Installation ausgegangen, die man betreten und verlassen kann, wie einem beliebt. Am folgenden Abend reden wir am Werkstattgespräch auch darüber. Stimmt, geplant war einmal eine fliessendere Situation. Aber irgendwann waren die Sachzwänge ausschlaggebend: Viel Material, aber nur zwei Stunden, das geht nicht ohne Konzentration. Die Szenografinnen schweigen, hier hätte ich sie noch einmal ansprechen müssen: Wie hätte man räumlich reagieren können? Das verpasse ich, es ist schon spät, für alle. Später sind einige der «Szenos» enttäuscht vom Gespräch.
Doch was war eigentlich die Aufgabe? Dazu am besten gleich Mira Sack, Leiterin des Bachelor Theaterpädagogik im Departement Darstellende Künste und Film in einem Mail:
« Wir recherchieren diesmal nicht ausgehend von einem Ort, sondern beginnen bei Menschen. Zum Themenkomplex ‹Normalitäten› werden die Studierenden Hospitanten im Alltag eines ‹Anderen› machen: einen Tag mit behinderten Menschen, einen Tag mit Hochleistungssportlern u.ä., einen Tag mit selbst gewählten Personen, die mit Körper/Glück/Normalität zu tun haben (Piercing-/Tattoo-Studiobesitzer; Yogi…). Aus den gesammelten Beobachtungen versuchen wir dann eine gemeinsame Verfahrensweise (‹Inszenierung der Suche›, ausgehend von Andrea Sabsich) für unser theatrales Anliegen zu adaptieren.»
Die Recherche im Hintergrund
Die Entwicklung dieser Arbeit verläuft also zwischen Recherche und Spiel. Auffallend: Die Recherche ist, mit einer Ausnahme, nie Thema. Das Material bleibt unsichtbar. Und obwohl in den Zwischenmoderationen oft das Wort «Performance» fällt, sehe ich meistens Figuren, die deutlich etwas darstellen, Rollen annehmen und auf Figuren verweisen, alles Dinge, die der Gattung der Performance fremd sind. Ich frage also nach, was sie mit Performance meinen. Sie wissen, was sie tun: Die Definitionen kommen sofort, einfach und klar. Die Gattung sei für sie nicht im Zentrum gestanden, sondern der Inhalt. Das Was, nicht das Wie.
In manchen Nummern erkennt man die Konzeption klar, es sind kleine Aufgaben, die dann ausgeführt werden: Mit Kaugummi Fäden ziehen, Brüste vergrössern oder abbinden, die Versuchsanordnung gleitet allmählich in ein Spiel und verwischt die Gattung; und am Schluss sind drei (oder vier?) im wahrsten Sinne Performerinnen an Gummibändern festgemacht und legen Holz- oder Torfstücklein in Reihen auf den Boden, schön abgezählt. Im Gespräch erfahre ich: Das geht auf eine Begleitung in der Backstube zurück, wo Menschen mit unterschiedlicher Behinderung arbeiten. Die Stücklein am Boden sind die Croissants, oder Gipfeli, wie sie in der Schweiz heissen. Und eine Studentin erzählt, wie sie nachts durch das Zürcher Rotlichtviertel wandert auf der Suche nach einer Strip Show, die dann nicht stattfindet, und wie sie sich schämt, selber im Prinzip nur Frischfleisch gesucht zu haben: für ihre Arbeit. Ansonsten fehlen die Verweise auf die Recherche.
Warum diese Vorsicht dem Material gegenüber? Hier reden wir länger, auch ich bringe meine Erfahrungen als Journalist und als Theatermacher dokumentarischer Abende mit ein, letzteres vielleicht zu sehr. Sie hätten ja keine Interviews geführt, heisst es in der Runde. Es waren eben «Begleitungen», manche hätte die unjournalistische, unaufsässige Vorgehensweise gerade geschätzt. Begleitung klingt für mich etwas zu sozialtherapeutisch. Und: Die unausgesetzte Beobachtung kann auch Dauerstress bedeuten, wenn nicht klar ist, zu welchem Zeitpunkt der Austausch öffentlich ist, und wann quasi privat. Das Verhältnis von Repräsentation und Privatheit verschwimmt.
Die Arbeit am Selbst
Ein entscheidender Hinweis aus der Runde: Es gehe nicht darum, den Alltag der recherchierten Personen darzustellen, sondern um die eigenen Erfahrungen, die man dabei gemacht habe. Kurz: Es geht um Selbsterfahrung, in fremden Kontexten. Das ändert alles. Wussten das die,wie soll man sie eigentlich nennen: Testpersonen?
Wenn die eigenen Erfahrungen zentraler sind als die Erfahrungen anderer, tritt das Material – die Beobachtungen, Gesprächsfetzen, Erzählungen – in den Hintergrund. Oder: Das Material wird radikal subjektiv. Und damit auch schwieriger zu lesen. Kommt hinzu, dass kein spezifischer Ort die Arbeiten strukturiert. Diese «Hospitanzen» im Alltag anderer fanden an vielen verschiedenen Orten statt (diese Schwierigkeit diskutieren wir gegen 23 Uhr vor der Türe, als das Gespräch schon vorbei ist und ich das innere Aufnahmegerät doch noch nicht ausgeschaltet habe…). Der abwesende und dadurch unsichtbare Ort erschwert die Übersetzung in eine Szene oder Skizze weiter. Aber egal ob das Material aus Interviews oder Notizen über die eigene Erfahrung besteht: Immer wieder reden wir über Zeit. Zeit, den Überblick zu behalten über das Material. Immer wieder einzusteigen und konkret zu werden. Das kann sehr anstrengend sein, weil man immer wieder neu anfängt. Anfangen muss. Recherche kann zu billigen Resultaten führen, wenn man meint, sich dadurch die künstlerische Arbeit sparen zu können. Wenn beides passiert, kostet es Schweiss. Die Studentinnen sehen, kurz nach 23 Uhr, ganz schön geschafft aus.
http://vimeo.com/97674535