In der Schweiz heissen die Vorstädte Agglomeration, im Volksmund Agglo. Bereits in Deutschland versteht man den Begriff nur in akademischen Kreisen. Agglo ist in der Schweiz auch ein sozial stark markierter Begriff und bedeutet: Neubausiedlungen aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, heruntergekommene alte Arbeiterhäuschen, grosse Gewerbegebiete, viele Migrant_innen. In der Nähe findet sich eine Autobahn, mindestens aber eine mehrspurige Durchgangsstrasse durch den Rest der alten Dorfstruktur. Agglo ist ein junger Begriff, gerade deswegen ist das Phänomen, das er beschreibt, im starken Wandel begriffen. Das merke ich spätestens, als ich zur Abschlusstagung eines Forschungsprojektes der ZHdK und der UdK (Universität der Künste) Berlin über Stadtentwicklung in der Agglomeration in die Zürcher Agglo fahre. In zehn Minuten bringt mich die Bahn vom Stadtzentrum zum Bahnhof Schlieren, auf dem Weg zum Tagungsort passiere ich eine edle Kaffeerösterei und kurz danach einen Optiker mit Designerbrillen im Schaufenster. Die schönen Modelle gibt es ab 600 Franken, ohne Gläser. Der Bohnenduft ist umsonst. Schlieren is changing.
Auch um diesen Wandel geht es an der Abschlusstagung dieses Forschungsprojektes, dessen Titel in voller Pracht lautet: «Visuelle und auditive Wahrnehmungsdispositive. Zur Erweiterung der Evaluationsmethodik von Stadtentwicklung in der Agglomeration am Beispiel von Schlieren.» Die Schere zwischen meiner Vorstellung von Agglo und den Anzeichen von Gentrifizierung, die ich zu Fuss entdecke, wird an der Tagung immer wieder aufgehen. Der Gegenstand hat ja bereits auf der Anreise definitorische Schwächen gezeigt. Was heisst Agglomeration überhaupt? Das fragt sich auch Susanne Hauser (UdK Berlin), die in einem historischen Rückblick die Schwierigikeit erörtert, dieses Phänomen zu fassen. Und die persönlich gefärbte, anschauliche Response von Philip Ursprung (ETH Zürich) wertet einige Klischees der Agglo ins Positive um. Schon früh ruft die Tagung in Erinnerung: Der Begriff Agglomeration ist Ausdruck eines kolonisierenden Blickes des Stadtzentrums auf die Ränder. Später am Tag notiere ich mir Voten in der Art von: Wir untersuchen die suburbane Zone mit urbanistischen Mitteln; die Agglo trägt heute vielerorts städtische Züge, während die Innenstadt mancherorts an eine Klein- oder Vorstadt erinnert; in 20 Jahren gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Zentrum und Agglo, diese Zwischenzone verschwindet.
Kunst sammelt keine demografischen Daten
Der Gegenstand hat sich somit laufend differenziert, bis kurz vor seiner Auflösung. Auch das ist kein Manko, sondern wiederum Teil der «künstlerischen Forschung», um die es hier im Kern geht. Während eines Jahres hat ein fünfköpfiges Team ebensolche «visuelle und auditive Wahrnehmungsdispositive zur Wahrnehmung von Transformationsprozessen» für Schlieren entwickelt. Raumplanung arbeitet stets mit den etwa gleichen Parametern, wenn die Entwicklung einer Stadt oder eines Quartiers erfasst werden soll: Wer hat welchen Pass, wie viele Kinder, und wieviel Steuern werden bezahlt? Das Zürcher und Berliner Projekt argumentiert, dass diese Daten nicht ausreichen, um den Wandel zu erfassen. Subjektive, «sinnlich-emotionale» Wahrnehmungen fallen aus klassischen Rastern der Analyse in der Regel heraus.
Meret Wandeler, die zusammen mit Urlich Görlich den Zürcher Teil des Projektes verantwortet, hat mir am Telefon eine Woche vor der Tagung die «Dispositive» erklärt. Vier Probanden, die bei der Stadt Schlieren arbeiten oder dort Planungsdienste anbieten, sitzen vor projizierten Fotoserien, die den Wandel in Schlieren seit 2005 dokumentieren, während aus den Lautsprechern Schallaufnahmen der abgebildeten Orte zu hören sind. Es gibt unterschiedliche Präsentationsformen, aber in einer der Situationen betrachten die Probanden während 15 Minuten ein einziges Bild. Aus einem leeren Acker, der später bebaut wurde, entsteht in einer Viertelstunde ein volles, komplexes Bild, akustisch verstärkt.
Die konkrete Forschung zu spät erläutert
Alex Arteaga, kooperativer Leiter der Forschungsgruppe Auditive Architektur an der UdK, referiert am Vormittag der Abschlusstagung die philosophischen Voraussetzungen, wie Wahrnehmung zustande kommt. Arteaga tut dies sehr ausführlich, gerade weil er der Subjektivität jeder Wahrnehmung zu ihrem Recht verhelfen will. Das ist die Grundlage des Forschungsprojektes, das mehrere Sinne ansprechen will. Als Observer-in-Residence habe ich einen Vorsprung, weil ich die Grundzüge des Projektes (die «Dispositive») kenne. Für alle anderen Gäste ist die Reihenfolge der Präsentation etwas unglücklich, da die eigentliche Forschung erst am Nachmittag vorgestellt wird. Hätte das Publikum früher von der gar nicht so komplizierten Anlage des Projektes erfahren, wäre es den historischen und philosophischen Präliminarien wohl besser gefolgt. Das diskutieren wir auch im Werkstattgespräch am Tag danach. Auch dass die sinnvolle Idee, für jeden Vortrag jemanden mit einer Response zu beauftragen, ihren Gesprächscharakter verliert, wenn einige Vorträge halten, statt mündlich zu antworten.
Dabei ist das Projekt trotz seiner kurzen Laufzeit beispielhaft genug, um die Differenz von künstlerischen und empirischer Forschung aufzuzeigen (die visuellen und auditiven Langzeitbeobachtungen laufen zwar jeweils ganze 15 Jahre, aber das kooperative Projekt der «Wahrnehmungsdispositive» war auf ein einziges Jahr beschränkt). Zwei grundverschiedene Magic Moments der Tagung verdeutlichen die Vorteile wie die Risiken eines derart ergebnisoffenen Projektes.
Kunst mit Folgen
Peter Wolf, der für Schlieren ein Raumentwicklungskonzept erstellt hat, vergleicht seine Berufspraxis mit den künstlerischen «Wahrnehmungsdispositiven». Sinngemäss sagt er Dinge wie: Im Alltag könne man als Planer niemals bis zu einer halben Stunde an einer Strassenecke herumstehen und die Situation wirken lassen, in diesem Projekt sei er aber zu einer ungewöhnlichen Wahrnehmung verführt worden. Das könnte auch eine Schönwetterrede sein, denkt man. Bis Wolf konkret erzählt, was den Unterschied ausmacht: Beim konzentrierten Betrachten des Wandels einer spezifischen Stelle habe er die Waschbetonbehälter vor einem eingeschossigen Gewerbebau schätzen gelernt. Rundherum entstanden in diesem Zeitraum mehrgeschossige Neubauten. Und die Hässlichkeit des Waschbetons entwickelte auf einmal einen patinierten Charme. Als Erinnerung an etwas Vergangenes, als Differenz zur Gleichförmigkeit des Neuen, als leiser ästhetischer Widerstand. Das sind keine Kleinigkeiten, sondern Effekte, die konkrete Wirkungen zeitigen.
Barbara Meyer ist in Schlieren für Stadtentwicklung zuständig und war eine der vier Proband_innen dieser künstlerischen Forschung. Ihre Berichte, die sich meistens auf das Ausgangsmaterial des Projektes stützten, haben auch gezeigt, was passieren kann, wenn man nicht klassische Daten erhebt, sondern Wahrnehmungen auslösen will. An der Tagung erwähnte Meyer beim Bild eines Hauses an den Bahngleisen, dass die auditiven Forschungen des Projektes schliesslich gezeigt hätten, dass der Schallschutz ausreichend sei. Das war eine Indienstnahme des künstlerischen Projektes für politische, kommerzielle Zwecke. Die Verantwortlichen, Alex Arteaga und der Klangkünstler Thomas Kusitzky, schütteln die Köpfe am Tag danach: Ihre Forschung habe nichts dergleichen bewiesen. Aber solche Missverständnisse, ja Instrumentalisierungen geschehen, wenn man nicht schon von vornherein weiss, was genau die Forschung beweisen soll. Auch hier hat das Projekt seine Auswirkungen gehabt, bloss halt nicht die intendierten.
Schade, dass die «Wahrnehmungsdispositive» nach nur vier Probanden bereits wieder vorbei sind. Interessant wäre gewesen, wie Leute auf die Bilder und Klänge reagieren, die nicht im Bereich Stadtentwicklung arbeiten. Zum Beispiel aktuelle oder auch ehemalige Bewohner_innen von Gebieten, die starken Wandel erleben. So könnte diese Forschung mehr über den sozialen «Umbau» erzählen, ohne gleich die Sozialwissenschaften zu kopieren und somit überflüssig zu werden. Oder man könnte auch jene Stadtzürcher_innen zur eingehenden Betrachtung der Agglo einladen, die immer noch denken, ihr Zentrum sei das Zentrum von allem und hinter dem Limmat- oder Albisriederplatz beginne bereits die EU. Das fotografische Material der Dispositive kann man übrigens weiterhin einsehen unter www.beobachtung-schlieren.ch, die Langzeitbeobachtung dauert bis 2020. Und allzu laut sollte man in Schlieren nicht mehr über die Agglo lästern, denn auch die Berliner Projektbeteiligten lassen ihre Mikrofone noch etwas herumstehen.
Videokommentare zum Werkstattgespräch des Observers:
Ulrich Görlich (ZHdK):
Alex Arteaga (UdK):
Meret Wandeler (ZHdK):
Thomas Kusitzky (UdK):
Tobi Müller (Observer-in-Residence):