Es ist viel zu warm für Anfang Januar, viel zu schön auch, wenn man gerade aus Berlin anreist. Doch die Idylle wird bald gestört: Ein Zug der Schweizerischen Bundesbahnen fährt nicht aus dem Zürcher Hauptbahnhof ab. Wir sind eine stattliche Gruppe, die nach Biel reisen will zum Masterkolleg 2014, einer zweitägigen Veranstaltung des Kooperationsmasters zwischen den Kunsthochschulen in Bern und Zürich. Studierende der Kompositions- und Tonmeisterlehrgänge stellen ihre Arbeiten vor, es gibt Vorträge und Performances. Und es gibt ein Thema zur Rahmung. Heuer: «Hier und Jetzt». Und tatsächlich stecken wir schon in Zürich in einem gedehnten Moment fest, Gleis 12, Speisewagen, der Kaffee wurde soeben gebracht. Gerade noch wären wir pünktlich gewesen, werden es aber nimmer mehr sein. Die Zeit treibt Schabernack. Die Deutschen am Tisch kennen das von ihrer Bahn. Die Schweizer starren auf ihre Telefone, die nichts erklären, und sagen: «Das kann doch nicht sein!»
Die Bieler warten auf uns, an der Jakob-Rosius-Strasse nahe der Burg. Ein alter Eidgenosse verteidigt die Fahne auf einer Häuserwand, die deutsche Inschrift verrät den lokalen Dialekt, etwa mit dem geschlossenen «O», wo die Stadtberner ein «A» sagen. Vor dem ehemaligen Polizeigebäude, wo sich seit zwei Jahren das Opernstudio und der Lehrgang Théatre musicale befinden, sitzen zwei vor einem Laptop und teilen sich einen Kopfhörer. Sie nicken im Takt. Ein gewohntes Bild, zwei Hip-Hopper, zwei Ohrstöpsel. Bis der Mann zur Frau sagt: «Siehst du, da war sie eben doch, die Zwischendominante!»
Ereignung statt Ereignis
Biel ist zweisprachig, doch das Französische ist dominanter in der Stadt. Xavier Dayer, der den Kooperationsmaster leitet, begrüsst uns dennoch in tadellosem Deutsch. Danach spielt Dieter Mersch auf Deutsch mit dem Thema dieser zwei Tage, mit Begriffen wie Präsenz, Anwesenheit, Ereignis. Mersch ist Leiter des Instituts für Theorie an der ZHdK, er lauscht der Geschichte der Wörter nach und der Geschichte der Sprachphilosophie. Wenn Mersch «Präsenz» sagt, betont er das Werden stärker als das Sein, er plädiert für die «Ereignung» und nicht das Ereignis, wie er das einmal sagt. Auf die Musik bezogen: Es geht ihm um die Möglichkeit des Offenhaltens von Sinn, um die Autonomie der Kunst, die «Hingabe an den Augenblick», auch wenn Letzteres «gleich schon die falsche Metapher» sei, wie Mersch anmerkt, weil beide Bildspender, das Auge und der Blick, von visuellen Wahrnehmungen künden, und nicht von Musik.
Ob Musik «reine Präsenz» darstellen soll, ob Kunst ohne Referenz auskommen kann, diskutieren im Verlauf des Tages einzelne Dozierende in den Pausen. Ich vermute: Für die meisten Studierenden war der Eröffnungsvortrag, trotz spielerischer und plastischer Auseinandersetzungen, zu voraussetzungsvoll. Für Nicht-Muttersprachler sowieso, da kann keine Simultanübersetzung helfen. Im Werkstattgespräch am Ende des Tages rege ich an, dass es sinnvoll gewesen wäre, wenn Isabel Mundry, Dozierende der Komposition, das Thema einführend skizziert hätte, so wie sie das im Programm in aller Kürze schon einmal getan hat. Dennoch: Thesen standen im Raum, die in den Tag mitnehmen konnte, wer wollte.
Produktive Widersprüche
Als Angelo Solari danach mit Mitstudierenden seine «Thèmes et Variations» aufführt, ein Stück sprachrhythmischer Tonsetzung, kommt man in eine produktiven Widerspruch mit diesen Thesen. Die Hingabe an den Augenblick, die Mersch fordert und die sich rascher Sinnfindung sperrt, weicht in Solaris knappen Erklärungen einer entspannten Vermittlung, so streng seine Kunst sich auch geben mag. Doch was heißt eigentlich «produktive Widersprüche»? So reden in der Regel Chefs im Kulturbereich, die nichts sagen können, wollen oder dürfen. Man muss es konkret machen: Die Rhetorik von Solari kühlt die Gasförmigkeit der Musik wieder auf einen Feststoff herunter. Auch die drei Notationssysteme, die Solari erläutert, umreissen den Gegenstand präzise und ermöglichen auch eine gewisse Reproduzierbarkeit. Aber nur eine gewisse, vieles bleibt auch so – bewusst – offen. Die Aufführung wird nicht zur Wiederholung des Gleichen. Das meine ich mit «produktiv», wenn die Thesen des Vormittags Kriterien zur Wahrnehmung und Diskussion bereit stellen können, auch wenn die Thesen dabei nicht zwingend bejaht werden müssen.
Dieses hohe Reflexionsniveau über die eigene Arbeit bleibt auch bei Stephanie Haensler bestehen. Die Masterstudentin Composition & Theory im zweiten Jahr spielt Ausschnitte aus ihrem Stück «Ganz nah» vor, aus dem Laptop. Es ist ein Stück für Geige und Klavier. Das Material sei ihr wichtig, der Klang, der Rollentausch der Instrumente auch. Es ist ein geräuschvoller Karneval der Funktionen, zunehmend expressiv. Man hört Sturzbäche, fast wortwörtlich. Man hört Imitationen der menschlichen Stimme, die auf der Schwelle des Sprechens sind, wie Haensler sagt. Und man fragt sich, ob der Konzertbetrieb dieser als akademisch verschrienen Musik nicht öfter solche diskursiven Elemente einbauen könnte. Es geht nicht darum, jede Note auf einen Sinn festzunageln. Die Berichte aus der Werkstatt leiten einen recht sanft durch die Werke. Schöne Umkehrung des Vormittags wieder, eine Anregung von Isabel Mundry, bei der Haensler studiert: Gerade die Aufnahme sei es in diesem Fall, die für mehr «Präsenz» sorge, da die nahe Mikrofonierung die Instrumente klarer betone als ein Liveklang es könne.
Auch das Masterkolleg ist eine Bühnensituation, obwohl die Öffentlichkeit eingeschränkt ist. Im Werkstattgespräch sage ich den Beteiligten, dass ich mehr auf die Form der Präsentation achten würde. Wenn Stephanie Haensler längere Ausschnitte abspielt, bleibt das Neonlicht im Raum sehr hell. Einzelne schliessen die Augen, einige für länger als nötig…. Eine kleine Veränderung der Lichtstimmung würde die Grenze von Vortrag/Diskussion zur Vorführung klarer markieren und die Konzentration fördern. Felix Baumann, der den Kooperationsmaster und in Zürich auch den Master Composition & Theory leitet, sagt während des Werkstattgesprächs, man sei sich im Hochschulalltag gewohnt, Tonbeispiele bei hellem Licht anzuhören. Stimmt, und doch: Hier ist die Runde grösser als im Seminar. Auch wäre es von Vorteil, die Studierenden als Autorinnen und Auoren vorzustellen und kurz einzublenden, oft wissen auch meine Sitznachbarn nicht, wer da gerade über welche Arbeit spricht. Zum Beispiel Matthieu Corajod, der sich mit einem Filmsketch von Louis de Funès befasst (ich hoffe, die Schreibweise des Komponistennamens stimmt!). Corajod hat den Sketch übersetzt in eine Art Pantomime mit Stimme, die ein Cello emulieren soll. Wie in der Diskussion richtig drauf hingewiesen wird, vergisst die Bearbeitung/Komposition aber das Wesentliche: Den Kontext des Sketches. Es bleibt eine Fingerübung, die auch in der Erklärung immer technischer wird, bis in die letzten Feinheiten des Cellospiels.
Grosse Gefühle
In die Arena der grossen Gefühle vorstossen will hingegen Joel Cormier, Student des Masterstudiengangs Tonmeister. Er vergleicht die Aufnahmetechniken von Orchestern im deutschsprachigen Raum, wo man mit wenigen Mikrofonen versucht, den Raum abzubilden, mit der angelsächsischen Tradition der Nahmikrofonierung. Letztere Praxis erlaubt in der Tonmischung mehr Flexibilität, mehr Gestaltung, mitunter mehr Druck. Cormier spielt auch Ausschnitte aus der Filmmusik zu «Lord of the Rings» und «nötigt» uns, wie er sagt, mit Miley Cyrus sogar zu Popmusik, was für manche eine Art Grenzüberschreitung darstellt. Cormier möchte mehr Lautstärke, mehr körperliche Präsenz. Wo die Grenzen des Tonmeisters liegen, wie man zwischen Film- und Konzertmusik unterscheiden muss, dass man nicht jedes Werk nach Belieben des Tonmeisters mit mehr Muskeln ausstatten kann, diskutiert das Plenum nun sehr angeregt. Alle sind betroffen. Es bleibt an mir, die Popmusik in Schutz zu nehmen, mit dem Hinweis, dass das Cyrus-Klangbild veraltet sei und mich an die Neunzigerjahre erinnert, als man von einem Krieg der Lautstärke sprach in den Tonstudios. Gerade in der avancierten Popmusik kombiniert man seit einigen Jahren ganz unterschiedliche Klangräume gleichzeitig: Staubtrockene, analoge Sounds stehen da mitunter in riesigen digitalen Hallräumen. Die Klangräume sind längst hybrid.
Hybrid heisst auch gottgleich, im Sinne von: anmassend. Und anmassend ist die Ausstattung im Sous-Sol dieses Hauses in der Tat. Tonmeister Cormier kann lange nicht beginnen, weil der rechte Lautsprecher nicht will. Irgendwann funktioniert er, aber nur auf halber Stärke. Wir hören Musik, und wir müssen uns das meiste selber vorstellen. Da ist es wieder, das Offene, das Dieter Mersch am Vormittag beschworen hat.
Videokommentare Werkstattgespräch:
Isabel Mundry (Dozentin Komposition, Master Composition & Theory, ZHdK)
Stephanie Haensler (Studentin Master Composition & Theory, ZHdK)
Germán Toro-Pérez (Leiter Institute for Computer Music and Sound Technology, ZHdK)
Tobi Müller (Observer-in-Residence)