Schweigewind

Berauscht von der Musik starre ich in die Nacht hinaus. Kein Stern hängt am Himmel. Doch der See breitet sich wie eine Paillettendecke vor mir aus, beleuchtet von Häusern, in denen man keine Ruhe kennt, von Strassenlaternen, Autos und Schriftzügen. Wie friedlich alles wirkt. Als gäbe es kein Chaos, keinen Lärm, keine Gewalt, wenn die Lichter ausgehen, das Glitzern verschwindet und die Sonne sich durch Wolken und Dunst erst nur als diffuses graues Licht bemerkbar macht.

Ich senke den Blick. Unter mir die Standpromenade zu Füssen der Linde, auf der ich sitze.
Ein Liebespaar sitzt dort auf einer der Bänke. Und ein Obdachloser, der dort immer sitzt. Jede Nacht. Auf seiner Bank. Wie ich betrachtet er den Glitzersee und denkt nach, über alles und nichts. Er ist nie alleine. Bemerkt hat er mich noch nie.

Eine Brise streicht um meinen Körper, ich spüre, wie die Blätter zittern. Kitzeln.
Ich bin dankbar, hat der Herbst sich noch nicht festgekrallt. Im Herbst verschwinden die Blätter, ich werde sichtbar. Im Herbst peitschen die Äste im Sturm. Schon einmal wurde ich weggefegt wie eine leere Plastiktüte, die jemand zum Spass an die Linde gehängt hat. Oder weil er zu faul war, sie zum nächsten Mülleimer zu tragen.

Das Liebespaar ist weg, nur zwei leere Bierflaschen zeigen, dass es einmal da war.
Lichter gehen aus, die Menschen legen sich zur Ruh. Nur der Obdachlose nicht. Er starrt weiter in die Nacht hinaus.

Noch ein tiefer Atemzug, dann lasse ich mich fallen. Dem rauen Asphalt entgegen, ich sehe das fettige Haar des Obdachlosen auf mich zurasen. Im letzten Moment, den Geruch nach Schweiss und Hunger längst tief in der Nase, breite ich meine Flügel aus und gleite über den See, ein Schatten zwischen den verbliebenen Lichtern, dem Glitzern.
Noch einmal blicke ich zurück. Bis morgen. Er hat mich nicht bemerkt. Ein Windhauch.

marinaeichhorn