Nicole Henning
Wie kommt man bloss auf die Idee, nach einem anstrengenden Arbeitstag neben fünfzig Anderen auf einem Laufband zu rennen? An welches Bewusstsein appelliert nochmal die dünne H&M-Dame in den Blümchenkleidern? Weshalb heissen Kartoffel-Chips „Secret“? Was macht denn Streetart in einer Galerie?! Und wer hat eigentlich entschieden, dass der Prime Tower das neue Wahrzeichen von Zürich ist? Warum haben alle kniehohe, bettbreite, erdfarbene Ecksofas? Kaufen eigentlich alle bei IKEA ein, oder sehen die Möbel im Mobimo Tower nur gleich aus? Weshalb braucht jemand, der im Büro arbeitet, bei der Fahrt durch die Stadt einen Offroader? Warum wohnen Reiche neuerdings wieder im Zentrum? Und wieso mögen sie es, wenn man ihnen beim Wohnen zusieht? Weshalb bekommt mein türkischer Nachbar bei seiner Entlassung keine Abfindung? Und, verflucht, wieso gibt es auf dieser neuen Strasse keine Fahrradstreifen?!
Der Himmel brennt. Die feierabendlichen Strassen sind verstopft. Die Nerven liegen blank. Ein Gefährt erscheint am Horizont, ein Kleinbus mit blinkenden Lichtern. Weiss? Rot? Schwarz? Eine Ambulanz! Ein trojanisches Pferd? Es biegt mit Höchstgeschwindigkeit um die Ecke. In einem aufsehenerregenden Überholmanöver prescht unser Gefährt rechts an einem BMW vorbei, links an einem Porsche, dann schiesst es gerade aus, über vier Spuren und hält mit einer eleganten 180 Grad-Drehung auf der Kreuzung Kalkbreitestrasse/Seebahnstrasse. Der Verkehr steht still. Ungläubiges Staunen. Eine Tür des Busses öffnet sich und unsere HeldInnen verteilen sich mit gelben Klebebändern auf die Länge des kürzlich eröffneten Strassenstücks. Flink sind sie zugange und nach wenigen Minuten sind die beiden Fahrradstreifen markiert. Jetzt hat alles seine Ordnung. Applaus von allen Seiten.
Ich trete freudig in die Pedale. Es hupt. Aus der Traum.
www.realitaetsambulanz.ch ist der Versuch, mit künstlerischen Mitteln einer durchökonomisierten Lebenswelt entgegenzutreten – an deren Erhaltung wir alle beteiligt sind. Wie der Titel andeutet, liegt dem Projekt ein Zweifeln an den uns vermittelten allgemeinen Zusammenhängen, Bedürfnissen und Wahrheiten zu Grunde. Die Erfahrung der alltäglichen Wirklichkeit scheint damit oft nicht kompatibel. Besonders ärgerlich wird es, wenn wir merken, dass wir durch unsere Untätigkeit oder durch kalkulierte Desinformation zu Unterstützern von Interessen Einzelner werden, die unseren eigenen aus ethischen oder humanistischen Gründen zuwiderlaufen. Natürlich ist es richtig, sich gegen diese ungewollte Komplizenschaft zu wehren. Aber unsere Involviertheit ist ziemlich komplex, ist sie doch eine der Grundlagen für die Funktionsfähigkeit unseres kapitalistischen Systems. Wenn also alle beteiligt sind, wirft das die Frage auf, wie weit eine Einzelperson überhaupt die Möglichkeit hat, sich zu wehren, geschweige denn eine gesellschaftliche Veränderung zu bewirken.
Muss ich versuchen eine Revolution anzuzetteln? Das wäre ein sehr hoher Anspruch an ein Kunstprojekt. Wenn es das denn ist, was ich machen will: ein Kunstprojekt. Aber ist es überhaupt wichtig was es ist? Und warum sollte Kunst heute mehr bewirken können als zum Beispiel 1970? “Der Exodus aus dem Museum, der unter dem politisch angeheizten Klima um 1970 proklamiert wurde, stoppte, als man feststellte, dass die Kunst im gesellschaftlichen Raum zu versickern drohte, ohne dass jemand davon Notiz nahm, geschweige denn, dass die kunstexterne Sphäre davon ein Quentchen verändert wurde.”[1]
Aber ist das ein Grund die Flinte ins Korn zu werfen?
Szenografische Konzepte basieren auf einem Interesse an atmosphärischen Veränderungen von Räumen. Diese haben direkte Auswirkungen – zum Beispiel im Theater – auf die Arbeit der SchauspielerInnen und damit auf ihre Interpretation des Stücks. Der Stadtraum funktioniert nicht unähnlich. Auch dieser allen zugängliche Raum vermittelt durch sein Erscheinungsbild nur eine gewisse Bandbreite an möglichen und passenden Lebensentwürfen oder Interpretationen des Zusammenlebens.
Zürich z.B. ist sehr aufgeräumt. Der Raum, in dem wir uns täglich bewegen ist funktional und hübsch. Bildstörungen gibt es kaum und wenn, dann werden sie möglichst schnell bereinigt. Solch ein Lebensraum ist für reibungslose Abläufe des Zusammenlebens nicht unangenehm. “Die Gewohnheit macht alles hübsch und ruhig.“, wie Vilém Flusser in seinem Essay „Exil und Kreativität“ schreibt. Und weiter: „Die Gewohnheit ist wie eine Wattedecke. Sie rundet alle Ecken ab, und sie dämpft alle Geräusche. Sie ist unästhetisch (von aisthestai = wahrnehmen), weil sie verhütet, dass Informationen wie Ecken oder Geräusche wahrgenommen werden. Weil die Gewohnheit Wahrnehmungen abschirmt, weil sie anästhetisiert, wird sie als angenehm empfunden. Als gemütlich.“[2]
Nun kann der öffentliche Raum, also auch der Stadtraum, als Ort betrachtet werden, an dem der (momentane) Konsens der gesellschaftlichen Wertmassstäbe ersichtlich wird. Das macht die Stadt zu einem idealen Terrain, um unser Gewohntes zu stören und dadurch auf gesellschaftliche Probleme hinzuweisen.
Die Ambulanz
Ich habe mir ein überschaubares Terrain abgesteckt: den Zürcher Stadtraum, oder anders betrachtet: Ich nehme Zürich, die Weltstadt, in der sich nicht nur uninteressante Nachbarschaftsstreitigkeiten abspielen, sondern in deren Alltag globale Entwicklungen ganz lokale Auswirkungen zeigen. Zürich ist sozusagen die Bühne, auf der die “Dramen” verhandelt werden. Und der Narr [3] im Stück ist ein Einsatzfahrzeug, die Realitätsambulanz. Sie transportiert nicht nur wichtiger Güter zur Unterstützung von Aktionen, sie bespielt den ganzen Aktionsraum.
Der Blog
Nun habe ich zu Beginn dieses Textes erwähnt, dass ich glaube, dass gesellschaftliche Veränderungen nur stattfinden können, wenn sie breite Unterstützung finden. Um also alle Interessierten zur Mitarbeit einzuladen, habe ich einen Blog eingerichtet, auf dem gesellschaftspolitische Anliegen beschrieben und mögliche Szenarien für Realitätsoperationen entwickelt werden können. Pier Paolo Pasolini veröffentlichte 1972 einen filmtheoretischen Essay mit dem Titel Das Drehbuch als Struktur, die eine andere Struktur sein will. Darin beschreibt er das Drehbuch als eigene literarische Gattung, die sich von anderen literarischen Produkten unterscheidet, indem seine Zeichenimmer auf zwei Wege des Lesens verweisen, einerseits „den normalen Weg aller geschriebenen Sprachen“ und andererseits auf ein anderes Zeichen, nämlich das des herzustellenden Films. „Der Autor eines Drehbuchs verlangt von seinem Adressaten eine ganz besondere Mitarbeit, die darin besteht, dem Text eine „visuelle“ Vollständigkeit zu verleihen, die er nicht besitzt, auf die er aber verweist. Angesichts der unmittelbar erfassten technischen Merkmale des Drehbuchs wird der Leser sofort zum Komplizen bei der Operation, die von ihm verlangt wird; seine bildliche Vorstellungskraft erreicht unwillkürlich eine viel höhere und intensivere Produktivität, als wenn er einen Roman liest. Die Technik des Drehbuchs ist vor allem auf diese Mitarbeit des Lesers gegründet; und es ist klar, dass seine Vollendung von der vollständigen Erfüllung dieser Aufgabe abhängt.“ [4]
Der Blog ist also das Gefäss der Drehbücher. Er ist virtuell. Er birgt dadurch implizit die Möglichkeit, dass nicht alle Vorschläge für Aktionen umgesetzt werden müssen, sondern dass sie einfach dazu dienen können, an die Vorstellungskraft des Lesers und der Leserin und damit an eine potenzielle Mitarbeit zu appellieren. Augusto Boal nennt diesen Vorgang in seiner Theaterarbeit „Probe zur Revolution“ [5] .
Der Comic
Viele „kleine Revolutionen“ sind meines Erachtens eine Möglichkeit, systemische Strukturen nachhaltig zu verändern, denn sie stellen die erzwungene Gleichheit innerhalb einer Gesellschaft in Frage. Sind sie für alle sichtbar, können sie die die „Angst vor dem Anders sein“ [6] nehmen, weil sie die Existenz einer Vielheit von Meinungen aufzeigen.
Aktionen passieren oft nur einmal. Räumliche Eingriffe werden meist schnell wieder entfernt, schriftliche Kommentare übermalt. Was haben wir dann also erreicht mit dem ganzen Aufwand? Wie kann sich eine Vielheit etablieren, wenn sie immer gleich wieder weggewischt wird?
Wir können davon erzählen.
Auf dem Blog gibt es einen Comic-Baukasten. Dieses Online-Werkzeug ermöglicht es auch zeichnerisch unbegabten Zeitgenossen, mit Hilfe der Bilddatenbank von Ereignissen zu berichten, die bereits wieder aus dem Stadtbild verschwunden sind, Hintergründe zu erörtern und Gedanken dazu zu äussern, aber auch fiktive Aktionen zu skizzieren oder ein utopisches Zürich zu erfinden.
Flash-o-lette, die rasende Reporterin, ist die verbindende Figur dieses Bottom-up-Journalismus, doch die eigentlichen HeldInnen sind die Autorinnen und Autoren der selbst gebastelten Reportagen, die ihre Geschichten in kleine Heftchen drucken, um uns andere zu informieren.
Die Ausstellung
Die praktische Umsetzung der Realitätsambulanz diente mir als Grundlage für eine künstlerische Untersuchung im gesellschaftspolitischen Kontext. Beginnend mit Texten von Jean Baudrillard, Marc Augé und Vilem Flusser rieben sich meine Ideen und praktischen Vorstösse immer wieder an der Frage, wie tauglich Mittel und Methoden (z.B. einer Künstlerin) sind in Bezug auf die Mittel und Methoden, die dem Gegenspieler (z.B. einem Konzern, der Stadt, einer Partei, dem System) zur Verfügung stehen. Dieser Fragestellung lag dabei keine zentrale These zugrunde, sondern ein Geäst an Theorien, Fakten, Fantasien, Experimenten und den dazugehörigen Erfolgen und Rückschlägen in der praktischen Umsetzung. Heute betrachte ich ein Projekt, wie die Realitätsambulanz im Sinne der bereits erwähnten Vielheit, als Beitrag zu einer heterogeneren Gesellschaft, die sich, aufgrund ihrer Beschaffenheit, nicht so leicht zur Komplizin ethisch fragwürdiger Interessen Einzelner machen lässt.
Meine Unternehmung ist deshalb mit dem Ende des Studiums nicht abgeschlossen. Die praktische Umsetzung der Realitätsambulanz wird sich weiter verändern, und gerade die partizipativen Elemente des Projekts müssen sich erst noch in der Wirklichkeit beweisen. Die Ausstellung zeigt deshalb eine Arbeit im Prozess, Stand 31. Mai 2013.
Fussnoten:
1 Brian O’Doherty “In der weissen Zelle” , Markus Brüderlin “Nachwort: Die Transformation des White Cube”, S147
2 Flusser, Vilém 2007, Von der Freiheit des Migranten, S.104
3 http://de.wikipedia.org/wiki/Narr Narren fanden sich sowohl im ritterlichen Gesinde als auch an Fürstenhöfen. Im französischen Schachspiel hat der Narr („Fou“) gar die Rolle des Läufers im deutschen Schach. Für die dort tätigen Hofnarren galt die Narrenfreiheit, die es ihnen ermöglichte, ungestraft Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu üben.
4 Pier Paolo Pasolini: Empirismo eretico, 1972 (dt.: Ketzererfahrungen. Schriften zu Sprache, Literatur und Film, übers., kommentiert und mit einem Nachwort v. Reimar Klein, Hanser, München 1979)
5 Augusto Boal; Theater der Unterdrückten; Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler; edition suhrkamp 1361
6 Richard Sennett: Zusammenarbeit, Das unkooperative Ich, S.241 ff
Beteiligte Personen:
Peter Bäder und Andrea Caprez (Comicbaukasten)
BA-Studierende der ZhdK (Kunstvermittlung, Game Design, Wissenschaftliches Zeichnen) im Rahmen des Z-Moduls „How to play Flash-o-lette?“
diverse Beteiligte bei Aktionen