Zwingend
Donizettis Poliuto steht so selten auf den Spielplänen, dass die Schweizerische Erstaufführung gar für einen ausgewiesener Experten wie Maestro NELLO SANTI, der nunmehr auf eine über 60-jährige Karriere zurückblickt, eine Erstproduktion darstellte. Und Regisseur DAMIANO MICHIELETTO machte deutlich, dass sich dieses Stück nicht nur in schwelgerischem Belcanto, Koloraturenwerk und spektakulärem Heldentod ergibt, sondern gemäss dem Titel der französischen Version (aus der einige Partien in die nun in Zürich gespielte Fassung eingefügt wurden) die dramatische Situation von verfolgten und geächteten Glaubensgruppen in bedrängendem Ausmass zeigt. Ganz besonders dort, wo seine aktuelle und direkte Sichtweise die Grenzen reizt und damit die Ablehnung des an diesem Haus gern auf Lukullik eingestellten Publikums evozierte, korrespondiert die Musik wie eine Kommentarebene zur Handlung. Die Bilder, der sich Michieletto bedient, schmerzen. Um Persönlichkeit oder Identität preiszugeben, ist Entblössung notwendig, die daraus folgend mit Verletzlichkeit einhergeht. Gerade diese ganz existentiellen Momente, die fast zum Wegschauen zwingen, hat der Regisseur präzis mit der Partitur abgestimmt. So können die Fragen um Martyrium, Glauben, Macht oder Liebe Kraft der Suggestionskraft der Töne beantwortet oder mindestens die für unsere Zeit und unseren Kulturkreis schwer nachvollziehbare Ambivalenz erhellt werden. Handeln in einem solchen Spannungfeld Personen nicht mehr nach gewohntem menschlichem Massstab, so sind die Schaufensterpuppen, die immer unter der Volksmasse auszumachen sind, als Hüllen treffliche Metaphern für Entleerung, Entfremdung und Anonymität. Die Umgebung, in die Bühnenbildner PAOLO FANTIN die Handlung stellt, ist eine kalte Welt von Huxleys oder Orwells Zukunftspessimismus. Nello Santi setzte mit dem Orchester der Oper Zürich den starken, unbequemen Bildern mit grosser Ernsthaftigkeit eine Emotionalität der vertrauteren Dimension entgegen und führte damit die hohe Qualität der Komposition deutlich vor Augen.
Freilich stellte gerade das erwähnte irritierende Handlungsmoment die Trias der tragenden Rollen vor entscheidende Probleme. Am Evidentesten wurde dies bei der Partie der Paolina in den Liebesgefühlen zwischen zwei Männern und in der Entscheidung zum Märtyrertod. FIORENZA CEDOLINS beschränkte den emotionalen Ambitus mehr, als sie Paolina zur kompromisslosen Heldin aufblähte. Zu konzentiert auf die Anforderungen der Partie, berührte ihre Interpretation leider wenig und zeigte sich eher kühl. In MASSIMILIANO PISAPIA hatte sie einen ebenso höhensicheren wie fermatenfreudigen Partner als Poliuto, musikalisch wie auch dramaturgisch blieb er eher pauschal. MASSIMO CAVALLETTIs Stimme spiegelte das Dilemma des Prokonsuls Severo zwischen Liebe und Staatsgehorsam in kraftvoll leuchtenden dunklen Farben. So stellte sich dem Statistenverein und dem Chor ganz wesentlich die Aufgabe, die Aussagekraft der Inszenierung zu tragen. ERNST RAFFELSBERGER hat letzteren gewohnt zuverlässig vorbereitet, so dass er frei und intensiv die grossen Aufgaben erfüllen konnte. Das Stück allerdings wird jedoch wohl weiterhin eine Rarität auf den Spielplänen bleiben.