Interview mit Livia Enderli

«Man muss sich immer wieder neu erfinden. Du musst dich anpassen. Du musst schauen, was kann ich mit meinen Skills noch machen – was unterscheidet mich von anderen.»

Livia Enderli hat viel Erfahrung im traditionellen Berufsbild einer wissenschaftlichen Illustratorin gesammelt. Einerseits durch Praktika im Tierspital, in der Medizintechnik und in der Schönheitschirurgie, aber auch durch ihre langjährige Tätigkeit beim Archäologischen Amt Thurgau, wo sie unter anderem für die Datenbankverwaltung verantwortlich war.

Zu jener Zeit befand sich alles im Wandel – Fotos aus Analog-Sammlungen wurden erstmals digitalisiert, es gab neue 3D-Daten, für deren Archivierung es noch keinen festgelegten Industriestandard gab. Dennoch ist es schwierig in einer so grossen Institution wie einem staatlichen Betrieb, schnell zu reagieren, da jeder Entscheid erst durch mehrere Instanzen abgesegnet werden musste.

Klassische Objektzeichnungen von Funden, die Teilnahme an Ausgrabungen und Profilzeichnungen im Feld gehörten zu ihrem Alltag. Digitales Arbeiten mit Programmen wie CAD, GSI oder Photogrammetrie erlernte sie durch die Routine schnell.

Das Interesse am 3D-Bereich der Visualisierung ist des Weiteren etwas, mit dem sie bereits bei ihrem Bachelorprojekt erste Erfahrungen gemacht hat. Mit ihrer Arbeit «The Boy of Teshik-Tash» hat sie es sich zum Ziel gesetzt, das falsche Bild des Neandertalers als gedankenlosen Affen zu verbessern. Durch die Kooperation mit Museen und dem Scan eines Schädels erstellte sie eine 3D-Visualisierung eines Neandertaler-Jungen, die ihn als intelligentes Wesen zeigt und uns auf Augenhöhe begegnet.

Trotz dieser Erfahrung war der Einstieg in die Berufswelt nicht immer einfach. Praktika und Empfehlungen dienten schlussendlich als Türöffner in die Festanstellung. Sie arbeitete während fünf Jahren an der Seite von Archäolog*innen, Wissenschaftler*innen und vielen anderen, die in dieser Branche beschäftigt waren.

Und obwohl sie ihre Stelle in der Archäologie inhaltlich extrem interessant fand, merkte sie, dass es Zeit für eine Neuerung war.

«Nach drei Jahren im Amt habe ich gemerkt, ich muss etwas ändern. Inhaltlich war es extrem interessant und ich habe so viel Potenzial gesehen, um spannende Arbeiten zu machen, aber ich wollte schneller Veränderungen spüren.»

Das führte zu ihrem Entschluss, noch den Master in Knowledge Visualization an der ZHdK abzuschliessen. Mit ihrer Arbeit «Versunkene Landschaft» steuerte sie erstmals in die Richtung von Service-Design. Auf die Frage, ob sie es wieder in der gleichen Reihenfolge tun würde, antwortete sie mit einem klaren Ja, da ihr die Arbeitserfahrung die erforderliche Selbständigkeit für das Masterprojekt sehr erleichtert hat.

Ein treibender Faktor für ihren Karriere-Umschwung war die Neuorientierung und die Motivation, in eine andere Rolle zu schlüpfen, die sie durch den Master erfahren hat.

«Ich wollte selbst Inhalte liefern und nicht nur ausführend sein.»

Mit dem Wechsel vom kantonalen Amt zu einer internationalen Firma beschreitet sie jetzt diesen neuen Pfad. Den Weg zu dieser Anstellung im Design-Research- und Service-Design-Branch in der Firma «Accenture Song» öffnete sich ihr durch ihr Masterprojekt. Da sie sich bereits davor mit Themen der Digitalisierung und Datenverwaltung beschäftigt hat, konnte sie die erforderliche Erfahrung in diesem Bereich aufweisen.

Accenture ist grundsätzlich ein Tech-Consulting-Unternehmen, das aber weitläufige Kompetenzen aufzuweisen hat und über grosse, eigene Designabteilungen verfügt.

«Und Accenture macht alles. Es ist die drittgrösste Firma der Welt, wenn man die staatlichen Firmen nicht mitzählt.»

Livia kommt nun ins Spiel, wenn sich Firmen digital umstrukturieren. An der Seite von Strategy-Consultants spricht sie mit den Kund*innen, findet heraus, was man verbessern muss, um deren Arbeitsalltag effizienter zu machen – und welche digitalen Produkte dafür notwendig sind. Danach gehört es ebenfalls zu ihrer Aufgabe, Vorschläge zu liefern, wie man die jeweiligen Produkte aufbauen könnte und nach Möglichkeiten das Designen und Fertigstellen. Ihr Alltag ist also grösstenteils von Kundenworkshops, Interviews und Creative-Sessions mit anderen Designer*innen geprägt. Konzeptvisualisierungen und das Illustrieren von Forschungsstudien sind an diesem Punkt die einzigen Schnittpunkte mit dem klassischen Berufsbild.

Die grösste Herausforderung, in der sie zugleich eine Chance sieht, ist die starke Interdisziplinarität ihrer aktuellen Arbeit, bei der man zum Teil mit schwierig zu vereinbarenden Arbeitskulturen in Kontakt kommt. Dazu kommt, dass die sofort spürbaren Schwankungen des Wirtschaftsmarktes von einem stärkeren Risiko zeugen als ihre vorherige Tätigkeit.

Das Zitat vom Anfang kommt erneut ins Spiel, als ich sie nach künstlicher Intelligenz frage. Sie gibt mir auf den Weg, dass die Persönlichkeit einen wertvoll macht und erklärt, dass sie trotz der massiven Veränderungen für den Berufsstand den Entwicklungen sehr positiv gegenübersteht und vielversprechende Chancen sieht. KI wird bei ihrem Job täglich verwendet, beschleunigt Arbeitsprozesse und ist eine gute Grundlage, um die eigene Kreativität anzustossen. Wie bei den Programmen, die sie zuvor für die Schule oder digitale Vermessungen neu erlernt hat, ist es wichtig, auf dem neusten Stand zu bleiben.

Für die Zukunft strebt Livia an, mehr Leadership-Erfahrungen sammeln zu können und beispielsweise zu Project-Lead aufzusteigen. Auch das Thema Zukunftsforschung interessiert sie sehr.

 


Herzlichen Dank an Livia für die Möglichkeit, ein so spannendes Gespräch führen zu können!

 

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