Minenopfer in Angola. Kulturelle Techniken im Umgang mit beschädigter Identität

Minenopfer in Angola. Kulturelle Techniken im Umgang mit beschädigter Identität

Wenn über Behinderte in Afrika geschrieben oder geredet werde, dann werde fast ausschliesslich über, selten aber mit ihnen geredet, sagt der Ethnologe Ulf Vierke vom Afrikazentrum der Universität Bayreuth. Die Untersuchung „Minenopfer in Angola. Kulturelle Techniken im Umgang mit beschädigter Identität“, die im Kontext von „Glocal“ der Zürcher Hochschule der Künste durchgeführt wurde, erschliesst diese Lücke. Die Modedesignerin Bitten Stetter, der Kultursoziologe Francis Müller und die Fotografin Flurina Rothenberger haben einen Monat in Angola verbracht und über dreissig körperlich Behinderte in Luanda und Malanjé in ihren Lebenswelten besucht, interviewt und fotografiert. Sie sind mit einem Vertreter des regierungsnahen NGO ANDA (Associacao National dos Deficientes de Angola) ins Feld gegangen und haben mit Studierenden der Rehabilitationsausbildung an der Universidade Metodista in Luanda partizipative Methoden angewandt. Die Situation in Angola ist prekär: Der fast dreissig Jahre dauernde und 2002 beendete Bürgerkrieg hat das Land nachhaltig erschüttert. Die eigene Produktion von Gütern ist zum Erliegen gekommen; als Folge wird fast alles importiert, was Luanda – auch im Zuge des Öl-Booms, von dem eine kleine Elite profitiert – zur teuersten Stadt der Welt macht. Nur 30% der Bevölkerung haben Zugang zu medizinischer Versorgung und 40% zu Trinkwasser. Aufgrund der zahlreichen Tretminen und weit verbreiteter Krankheiten wie Polio und Malaria haben ungefähr 10% der Bevölkerung eine körperliche Behinderung. Die Behinderten sind von den prekären Umständen in höchstem Masse betroffen. Sie sind oftmals vollkommen von ihrer Familie abhängig und haben einen extrem eingeschränkten Bewegungsradius. Im Feld wurde spezifisch nach ihren Alltagspraktiken und Alltagsroutinen, aber auch nach Wünschen und Träumen gefragt. Es zeigt sich, dass viele Behinderten in der Millionenmetropole Luanda einen intrinsischen Drang nach kreativer Tätigkeit haben – etwa nach Poesie, Gitarrenspielen, Kunst, Tanz oder Malerei. In der eher ländlichen Kleinstadt Malanjé hingegen wurde eher der Wunsch nach einem eigenen Haus geäussert. Die Motivation der Befragten in Luanda nach kreativer Tätigkeit relativiert die Maslow’sche Bedürfnis-Pyramide, der nach Selbstverwirklichung erst erstrebt wird, wenn materielle und rudimentäre Bedürfnisse befriedigt sind. Fast alle der befragten Probanden und Probandinnen leben in extremer Armut und meist ohne Zugang zu medizinischen Hilfeleistungen. In einem soziologischen Sinne könnte man sagen, dass sie ein hohes Kontingenzbewusstsein entwickeln: Sie reflektieren ihre Identität, sie beziehen sich dabei einerseits auf ein inneres, kreatives Potential, zugleich dienen ihnen soziale Identitäten als Referenzen – zum Beispiel der Künstler, Musiker oder Tänzer. Einige der Behinderten haben Online-Zugänge, wobei sie etwa Facebook intensiv nutzen und rege damit kommunizieren (auch mit dem Forschungsteam). Auch dies begünstigt die Reflexion. So tauchen Kreativität und Selbstverwirklichung in urbanen und suburbanen Feldern deutlich häufiger auf als in ruralen. Weiter zeigt die Untersuchung, dass die starke Sichtbarkeit von Behinderung in Kulturpraktiken thematisiert wird; zum Beispiel im Kuduro. Dieser harte Musik- und expressive Tanzstil wird teils von Behinderten praktiziert – zum Beispiel vom interviewten Polio-Erkrankten Rebenta (24). Zugleich imitieren unversehrte Tänzer und Tänzerinnen Behinderte und tanzen mit Krücken. Die Krücke wird somit dem normalen Kontext (Gehhilfe) entnommen und in einen neuen versetzt (Tanz). Diese Rahmenverschiebung kann als subversive Taktik gelesen werden. So werden soziale und politische Missstände in einer Kulturpraxis thematisiert. Dies ist – trotz der tragischen Lebensumstände – Ausdruck von einem kreativen Umgang mit Identität.

Projekt: Forschungsprojekt
Initianten: Francis Müller, Bitten Stetter
Zusammenarbeit: Universidade Methodista Luanda (Angola), ANDA (Associacao National dos Deficientes de Angola)


Forschungsbericht
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