Miriam Drewes was invited to the Nightly Research Salons about Ciudades Paralelas in the Schiffbau Zurich. The event was hosted by the research project Re/Okkupation (ZHdK) by Imanuel Schipper.
Miriam Drewes
‚Subjekt reloaded‘: Authentizitätspotenziale und Emotionen im postdramatischen Theater
Das postdramatische Theater hat die Dekonstruktion des Subjekts, wie sie von der Theorie des Poststrukturalismus vorgedacht wurde, auf der Bühne mit vollzogen, dabei das Subjekt aber keineswegs abgeschafft. Vielmehr wird es im Spannungsfeld von Authentizität und gesellschaftlicher Konstruiertheit gezeigt, wobei die Deckung von Figur und szenischem Spiel aufgebrochen wird. Im dadurch entstehenden Widerstreit von Fiktion und Realität werden auch Emotionen als ehemalige Garanten von Wahrhaftigkeit fragwürdig.
„Früher wurden Städte um Fabriken gebaut. Heute befinden sich die Fabriken weit außerhalb der Stadt. Früher bestimmte die Fabrik die Gesetze der modernen Arbeit. Jetzt bestimmen die Gesetze des Marktes, was, wie schnell und mit welchem Wert produziert wird. In der Fabrik begegnen sich alle sozialen Schichten, vom Reinigungspersonal über den Bandarbeiter, den Quality Manager und Vertriebsleiter bis hin zum Eigentümer. Jeder hat seine eigene Beziehung zum Arbeiter und zur Fabrik.“ (Gerardo Neumann, Fabrik)
Mit diesen knappen Sätzen beschreiben die Kuratoren und Theatermacher Lola Arias und Stefan Kaegi ihr Projekt Ciudades Paralelas/Parallele Städte (2011), das in Berlin, Warschau, Zürich und Buenos Aires zu sehen war. Doch diese Worte wollen mehr als nur beschreiben: Sie sind ein Statement. Sie vermitteln die Wahrnehmung einer Veränderung, ja sogar einer Zäsur. Aus ihnen geht hervor, dass sich das Arbeitsleben im Gegensatz zur Vergangenheit radikal gewandelt habe. Vor allen Dingen aber wird betont, dass dieser Wandel keinesfalls spurlos an den Menschen der heutigen (Arbeits-)Gesellschaften vorübergegangen sei. Im Gegensatz zu früher, so der Grundgedanke der Kuratoren, unterliege das Arbeitsleben komplett dem Zwang der Ökonomisierung, den Vorgaben absolut effizienter Organisation.
Die Fabrik war jedoch nicht der alleinige Aufführungsort von Paralelas Ciudades. Ebenso wurden eine Bibliothek, ein Hotelzimmer, ein Shopping-Center, ein Gericht, ein Wohnhaus, ein Bahnhof sowie das Dach eines Hochhauses als Stätten für die von den Kuratoren geplanten Interventionen ausgewählt. Hintergrund dieser nicht allein auf die Arbeitswelt beschränkten Konzeption war die Überzeugung, dass Räume dieser Art „funktionale Orte“ seien, die es überall auf der Welt gibt und die ein Indiz für „parallele Existenzen mit ähnlichen Regeln, aber lokalen Gesichtern“ abgeben. Ziel der Interventionen sollte sein, den „täglich benutzten Raum in eine Bühne [zu] verwandeln und Zuschauer dazu verführen, Zeit in diesem Raum zu verbringen, bis sich ihre Wahrnehmung verändert.“
Solch ein Zugriff auf das Theater gehört inzwischen zum ästhetischen und konzeptionellen Standardrepertoire des sogenannten postdramatischen Theaters. Dieses hat sich bekanntlich besonders weit von der Inszenierung einer vorgegebenen Textvorlage entfernt und damit die Vormacht des Textes auf dem Theater aufgehoben. Zudem stellt es weniger die Repräsentation einer Figur als vielmehr die Präsenz des Darstellers bzw. des Performers in den Mittelpunkt seiner Aktionen. Über das Hervorheben performativer Handlungen, das heißt von reinen Aktionen im ‚Hier und Jetzt‘ der Theatersituation, wird der Aspekt der Repräsentation nur soweit ins Spiel gebracht, als er als Teil einer umfassenden – künstlerischen, aber eben auch sozialen und kulturellen – Inszenierungspraxis exponiert wird. Nicht mehr jedoch als Modus einer fiktiven Geschichte mit fiktionalen Figuren, ausgestattet mit einer psychologischen Motivationsstruktur. Zudem kennzeichnen Diskursivität und Selbstreflexivität das postdramatische Theater in besonderem Maße: Es ist häufig – wenn bisweilen auch nur implizit und nicht bewusst – ein theoriegesättigtes Theater. Hierzu gehört auch, dass nicht allein auf Seiten der Darsteller und Künstler, also der Produzenten, sondern auch auf Seiten der Zuschauer, der Rezipienten, sich die oben beschriebene Offenheit als Angebot zu unterschiedlichen, durchaus divergierenden und sogar diffusen Rezeptionsmöglichkeiten niederschlägt.
Dieser Wandel hat auch die Konstitution des Subjekts auf dem Theater entscheidend und nachhaltig geprägt. Wenn es auf dem Theater nicht länger ausschließlich darum geht, andere Personen zu verkörpern, in Rollen zu schlüpfen, sich die Individualität eines anderen anzuverwandeln, sondern darum, die je individuelle Verfasstheit und Präsenz eines Darstellers auszustellen und, auf Rezipientenseite, mit zu vollziehen, dann lässt sich auch über das Subjekt nicht mehr in herkömmlichen Begriffen sprechen. Der im Titel ‚Subjekt reloaded‘ anklingende Gedanke an eine erneute Wiederkunft des Subjekts lässt sich deshalb nur angemessen in Verbindung mit der poststrukturalistischen Subjektkritik reflektieren. Einer Subjektkritik, die das Theater, wie es auch im Rahmen des Spielart-Festivals zu sehen ist, mit vollzogen hat. Jene Subjektkritik der 1980er Jahre und danach führte die Vorstellung von der Autonomie des Subjekts an ihre Grenzen, wollte den aufklärerischen Subjektdiskurs als Herrschaftsdiskurs enttarnen. Vor allem die Gender-Studies und die Postcolonial-Studies haben etliche Impulse von dieser Ideologiekritik bezogen. Das Ergebnis war (und ist) ein Denken, das herkömmliche Dichotomien wie Natur-Kultur, Subjekt-Objekt, Mann-Frau, Innen-Außen etc. verabschiedet und im Gegenzug hierzu den Fokus auf die kulturelle Konstruktion von Subjekt(en), von Geschlecht, von Geschichte, von Wahrnehmung, schließlich von Wahrheit überhaupt legt.
‚Subjekt reloaded‘ besagt in diesem Zusammenhang nun aber nicht, dass das Subjekt, wie häufig in den ehemals hitzigen Debatten um den Status der Postmoderne unterstellt, verabschiedet worden wäre. Die Subjektkritik Michel Foucaults, Jacques Derridas und anderer postmoderner Philosophen wollte vielmehr die metaphysischen Letztbegründungen, derer sich die Erzählung vom Subjekt lange Zeit bediente, ihrerseits als Ursprungsmythen enttarnen, um das Subjekt neu zu denken.
Man könnte soweit gehen zu sagen, dass das Theater die einzige Kunstform war und ist, anhand derer der Status des Subjekts und die vielfältigen Formen seiner Kritik nicht nur inhaltlich verhandelt, sondern in actu ausagiert werden: Intime individuelle Geständnisse, extreme Emotionen und verborgene Ängste sind auf dem Theater keineswegs, wie man vermuten könnte, weniger geworden. Allein, ihre Ausdrucksform hat sich, zum Teil sogar gravierend, verändert.
Die Theatergeschichte zeigt, dass es auf dem Theater je schon um die Frage nach den Bedingungen, Möglichkeiten und Wirkungsweisen der Darstellung von Affekten ging: Nicht nur die Poetik des Aristoteles tat dies, die sich nicht zuletzt über den Begriff der Katharsis mit der Frage nach der angemessenen Nachahmung von Natur und deren Effekten befasst. Zu nennen sind hier insbesondere seit dem Beginn der Moderne – und damit seit der Entdeckung des Subjekts – die historisch vielfältigen und durchaus widersprüchlichen Auseinandersetzungen darüber, was die Schauspielkunst zu leisten habe, um den Status des Menschen, respektive des Subjekts auf der Bühne im Rahmen der zeitlichen Kontexte je adäquat zu vermitteln.
Bis ins 20. Jahrhundert hinein kreisen die Theorien darum, welche ästhetische Form der Nachahmung der Realität adäquat sei. Erst seit den historischen Avantgardebewegungen findet eine umfassende Distanzierungsbewegung zu jenen, teils normativ interpretierten Vorgaben einer angemessenen Form der Darstellung des Subjekts auf der Bühne statt. Das Authentische der Fiktionalität wird im Laufe des 20. Jahrhunderts – vor allem durch den Einfluss der Performance Art seit den 1960er Jahren – getauscht mit der (alt-neuen) Suche nach der Authentizität des Authentischen, der Suche nach der Vermittlung von echten, unverstellten Gefühlen und deren ebenso authentischem Erleben: Die Überschneidung von Realität und ihrer Darstellung solle entweder deckungsgleich sein, wie bei den Aktionen der älteren Performance Art etwa von Marina Abramović, Allan Kaprow oder Chris Burden. Oder der Status von Fiktionalität und Realität solle so diffus wie nur irgend möglich sein, wie die Kippfiguren bei René Pollesch oder Forced Entertainment zeigen.
Ciudades Paralelas ist ein exemplarischer Beleg für die Veränderung, die das Subjekt auf dem Theater erfahren hat. In sämtlichen Interventionen geht es nicht darum, dass Schauspieler eine Rolle verkörpern und fiktionale Figuren darstellen. Vielmehr führen reale Personen in den je unterschiedlichen öffentlichen oder privaten Räumen keine anderen Aktionen vor als jene, die sie auch im Alltagsleben vollziehen. Es sind keine Ersatzhandlungen, sondern authentische Aktionen, die sie als Subjekte in Wechselwirkung mit dem je sie umgebenden und sie bestimmenden Umfeld zeigen sollen.
Die Gruppe Rimini-Protokoll, der Stefan Kaegi angehört, erprobt dieses Verfahren seit Ende der 1990er Jahre. Und auch in diesen von Stefan Kaegi mitkuratierten Interventionen ist der genaue Verlauf der Grenze zwischen Realität und Fiktionalität unklar. Diffus ist der jeweilige Anteil geplanter Inszenierung im Vergleich zur Improvisation der Darsteller im Moment der Aufführung. Hinzu kommt, dass diese meist weder professionelle Schauspieler, noch Laiendarsteller sind, sondern Personen aus jenem gesellschaftlichen Umfeld, dem sich die jeweilige Performance gerade widmet.
Die Aktionen von Stefan Kaegi – und anderen ähnlich arbeitenden Künstlern – machen sich genau dieses ‚Authentizitätspotential‘ zunutze. Bei der Intervention Fabrik der Reihe Ciudades Paralelas von Gerardo Naumann beispielsweise berichteten Angestellte und Arbeiter vom Fließbandarbeiter bis zum Logistikmanager einer schweizerischen Kartoffelchipsfabrik von ihrem Arbeitsalltag, ihren routinierten Arbeitsabläufen, der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und schließlich auch von ihren emotionalen Befindlichkeiten, wie der Angst vorm Verlust des Arbeitsplatzes oder auch von der ansonsten unausgesprochenen Hoffnung, eine feste Anstellung angeboten zu bekommen. Die Berichte wurden gleich einem Stationendrama den Zuschauern an den jeweiligen Arbeitsstationen von den Mitarbeitern eigens übermittelt, begleitet von einer Demonstration ihrer routinierten Handgriffe. Während der Anteil der Inszenierung im Dunkeln blieb, vermittelte die (vermeintliche) Authentizität der Personen als Darsteller ihrer selbst das Gefühl, einer unverfälschten und existentiell bedeutsamen Erzählung beizuwohnen. Dasselbe galt für Stefan Kaegis Beitrag Dach, bei dem er den blinden Musiker Marco Jörg aus seinem Leben berichten lies, so dass die Zuschauer die Möglichkeit hatten, nicht nur dessen biografischen Werdegang nachzuzeichnen, sondern auch die emotionale Verfasstheit eines Blinden hautnah mitzuerleben. Die Räume, in die die (intimen) Berichte eingebettet sind, sind hier nicht nur Kulisse. Hier greift in der Tat der Begriff des Dispositivs, das als Konglomerat architektonischer Anordnungen, institutioneller Bedingungen, gesellschaftlicher und kultureller Vorstellungen das Subjekt mitkonstitutiert und zugleich vermittelt, dass dessen eigene Verfasstheit immer wieder performativ hergestellt wird. Die Aufführungen sind schließlich, in ganz Brechtscher Tradition, eine Demonstration der Entstehungsbedingungen von (eingeübten) Verhaltensweisen wie emotionalen Befindlichkeiten. Die Idee der Identifikation von Rolle und Figur ist hier nur noch als historischer Schatten einer ehemals ästhetischen Norm wahrnehmbar.
Das Subjekt ist also auch hier keineswegs aus dem Theater verschwunden. ‚Re-loaded‘ meint vielmehr, sich zu vergewissern, dass das menschliche Subjekt durch die je vorstrukturierten Dispositionen und Umgebungen entscheidend mitgeprägt ist. Diese führen wiederum zu je unterschiedlichen (Selbst-)Inszenierungen, die den Anforderungen der jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte gerecht werden. Die wiederum jeweils damit verbundenen Emotionen der betreffenden Menschen stehen dabei bisweilen quer zu den strengen Reglements und Anforderungen, die die Umwelt an sie stellt. Die Anpassungsleistungen des Subjekts, die die unterschiedlichen Emotionen kanalisieren, unterliegen dabei permanenten Herausforderungen, wie sich insbesondere an den Randfiguren der porträtierten Gesellschaften belegen lässt, so etwa den ausländischen Mitarbeitern der Kartoffelchipsfabrik oder dem blinden Musiker. Deren Berichte sind ungeschönt, es gibt keine Masken, hinter denen sich die Darsteller verbergen ließen, es gibt keine routiniert eingeübte Technik, mit deren Hilfe sich das Darstellungsrepertoire als Teil einer gut funktionierenden Maschine abrufbarer Emotionen präsentieren ließe.
Über die spezifische Form der Präsentation ihrer Selbst – mit Hilfe des Berichts – treten die Subjekte zugleich aber in Distanz zu sich. Sie vermögen damit zu zeigen, dass Emotionen nie für sich selbst stehen, sondern immer auch an bestimmte Formen rationaler Begründbarkeit geknüpft sind.
Doch während der Grad der Authentizität emotionalen Empfindens der Darsteller für den Zuschauer verborgen bleiben muss, wird der Zuschauer sich möglicherweise durch die Authentizität der Berichte der Außergewöhnlichkeit seiner eigenen Empfindung bewusst. Anders als in fiktionalen Geschichten muss er sich den realen Gegebenheiten stellen – sei es, um Mitleid mit dem Gegenüber zu empfinden, sei es, um die eigene Haltung im Alltag zu überprüfen oder sei es, um diese zu ignorieren. Extrem sind die Emotionen in diesem Zusammenhang genau deshalb, weil sie dem Effekt des Realen geschuldet sind. Sie ermöglichen keine Ausweich- oder Fluchtbewegung, wie sie das fiktionale Theater ansonsten zulässt.
Über diesen betonten Gestus des Zeigens wird deutlich, dass der Status der Darstellung von Emotionen im postdramatischen Theater gegenüber dem repräsentationalen Theater ein anderer geworden ist. Die Darstellung flüchtiger Gefühle, die selbst dem sie erlebenden Subjekt bisweilen Kommunikationsschwierigkeiten bereiten, bringt die Skepsis gegenüber der Authentizität von Gefühlen mit ins Spiel, obwohl, oder gerade weil sie der Vorspiegelung von Gefühlen misstraut. Ob darüber allerdings von einer umfassenden Bestimmung der Gesellschaft durch Marktgesetze die Rede sein kann und mit Hilfe der Interventionen gleich die Wahrnehmungsgewohnheiten des Zuschauers verändert werden, muss an dieser Stelle offen bleiben.
Miriam Drewes promovierte in Theaterwissenschaft mit einer Arbeit über das Theater als Ort der Utopie. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theaterwissenchaft München/LMU und Koordinatorin des Promotionsprogramms ProArt im Department Kunstwissenschaften.
Published in: “Perspektiven auf Gegenwartstheater”, hrsg. von Jürgen Schläder, Jörg von Brincken und Tobias Staab, München: Forschungszentrum SAM 2011, entstanden im Rahmen des interdisziplinären Forschungszentrums für Gegenwartstheater und Medien an der Ludwig-Maximilians-Universität München