Habitus – Einführung in einen Begriff

Stichworte zum Konzept des Habitus in der Theorie von der sozialen Welt nach Bourdieu

Bourdieus Stärke ist das Begreifen des sozialen Handelns als kybernetisches Modell.

Soziales Handeln ist nicht das Befolgen von starren Regeln (Benimmkanon), sondern eine Handschrift des Handelns. Diese Handschrift bringt Improvisationen hervor, die Regeln folgen. Es entsteht das Bild einer gesellschaftlichen Praxis, in der jedes Mitglied der Gesellschaft über seinen Habitus Auskunft über seine Rangordnung gibt.

Der Habitus ist geronnene, verinnerlichte Erfahrung, ein Modus Operandi. Die Haupt-Prägung erfolgt in der Kindheit, das Lernen dauert lebenslang.

In Abgrenzung zum Konzept des sozialen Rollenspiels, kennt der Habitus-Begriff keinen Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Welt wird interagierend erkannt, gelernt, konstruierend gewonnen.

Habitus ist klassenspezifisch. Der Geschmack ist Körper gewordene Klasse und dient der Abgrenzung (Distinktion) bzw Zugehörigkeit. Er äußert sich in ästhetischen Entscheidungen, Kauf-Entscheidungen, der Praxis der Lebensführung (z. B. hinsichtlich des Essens, der Kleidung, der Wohnungseinrichtung, der Freizeitgestaltung oder des Kunst- und Musikgeschmacks).

Die verschiedenen Kapitalsorten: ökonomisches Kapital (materieller Besitz), kulturelles Kapital (Bildung), soziales Kapital (soziale Beziehungen) und symbolisches Kapital (Ansehen) sind innerhalb der modernen Gesellschaft ungleich verteilt. Dadurch sind verschiedene soziale Klassen unterschiedlich am gesellschaftlichen Reichtum, an Entscheidungsprozessen beteiligt.

Der Habitus ist geschlechtsspezifisch. Die Strukturierung von Arbeitszuteilungen, Handlungsweisen, persönlichen Merkmalen nach der Unterscheidung männlich / weiblich ist in allen Gesellschaften soziale Praxis. „Das Geschlecht ist eine fundamentale Dimension des Habitus, die wie in der Musik die Kreuze oder Schlüssel, alle … sozialen Eigenschaften modifiziert.“

Der Habitus formt sich aus in einem sozialen Feld. Dieser Begriff bezieht sich auf das in der Moderne auffällige System von der Eigenlogik abgegrenzter sozialer Sektoren. (ein Musiker folgt anderen Spielegeln im Streben nach Vormachtstellung als ein Banker). Diese Logik funktioniert nicht nach ökonomischen Funktionsregeln. Die Kräftefelder sind geprägt von der Konkurrenz unter den Akteuren, ihrem Zusammenspiel. Die Personen sind Personifizierungen der Anforderungen des Feldes an sie.

Zur Verortung im sozialen Raum gehört nicht nur die jetzige Lage, sondern die Laufbahn einer Person oder Gruppe (z.B. Familie). Den Weg durch den sozialen Raum fasst Bourdieu mit dem Begriff der „trajectoire“ (Laufbahn). Dieser Begriff soll die Abfolge der Positionen bezeichnen, die ein Mensch in seinem Lebenslauf einnimmt (z.B. potentieller Erbe, Student, Heiratskandidat, Berufsanfänger, Familiengründer…) . Die für die Positionen zu erwartende Kompetenz unterliegt einem Feldzwang. (das würden andere Soziologen mit dem Begriff Rolle bezeichnen).

Trotz seines Verlaufscharakters besitzt der Habitus ein Beharrungsvermögen. Er kann an Existenzbedingungen angepasst sein, die bereits nicht mehr existieren und demnach mit den aktuellen Existenzbedingungen nicht mehr übereinstimmen. (Hysteresis-Effekt, von grch. der Mangel, das Fehlen. Einfach formuliert bezeichnet Hysterese das Fortdauern eines Zustandes nach Wegfall der Anregung). (z.B. der Millionär mit dem Kleinbürgergeschmack, der verarmte Adelige mit dem Flair von Welt…)

Die in der sozialen Hierarchie herrschende Klasse/Schicht ist ständig auf der Flucht vor den Aufsteigern, die deren Lebensräume (Habitus), über die sie sich definieren (z.B. Schulabschlüsse, Konsumartikel), besetzen oder, umgekehrt, sie sind auf der Flucht vor dem Raub ihres erarbeiteten Wohlstandes, welchen sie selbst durch Raub erlangten (Ausbeutung, Kolonialismus)- Distinktionsstreben. (In Umfragen wird oft negativ formuliert, wie und von wem man sich absetzen möchte)

nach: Habitus, Beate Krais, Gunter Gebauer, transcript Verlag Bielefeld, 2002

 

Über justwho

KATHRIN KRUMBEIN geboren 1962 in Braunschweig, lebt in Berlin, Diplom im Studiengang „Angewandte Kulturwissenschaften“ der Universität Hildesheim; Certificate im „Museum Studies Program“ der New York University (DAAD-Stipendium); technische Koordination und Realisation der Künstlerprojekte bei der Documenta IX in Kassel; Ausstattungsleitung am Theaterhaus Jena (1997/98) und Schauspiel Hannover (2009); Arbeit als freiberufliche Ausstatterin u.a. am Theater Luzern, Schauspiel Basel, Gessnerallee Zürich, Schauspiel Köln, Schauspiel Düsseldorf, Schauspiel Hannover, Kammerspiele München, Kammerspiele Magdeburg, Sophiensäle Berlin, Volksbühne Berlin, Nationaltheater Athen, Schauspielhaus Wien, Schramm Film Berlin; Projektmanagement, Ausstattung und Regie bei Theater Mahagoni- hirche/krumbein productions
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