Begrabt das Kollektiv
von Philipp Spillmann, anstelle von Keine Klasse
Keine Klasse ist der Name einer Initiative, die sich dafür engagiert, Projekte junger Autor*innen zu unterstützen und sie unter dem Arbeitsbegriff »selbstorganisiertes Lehren/Lernen/Verlernen« zusammenzuführen. Die Grundidee ist simpel: Wir heben die Trennung zwischen der Position des Lehrenden und derjenigen des Lernenden auf, was im Prinzip der Aufhebung der Bildungsinstitution als einem hierarchischen Gebilde gleichkommt. So radikal das klingen mag – damit ist eigentlich noch nicht viel gesagt: Was für ein Wissen und was für eine Bildung denn damit entstehen soll, ist völlig offen. Auch klingt die Formulierung irgendwie unlogisch: Was ist denn dieses »Wir« in seinem Anspruch, Hierarchien aufheben zu wollen, anderes, als ein Diktat? Natürlich wäre es töricht, mit diesem Einwand Autorität und Hierarchie gleichzusetzen. Der springende Punkt ist vielmehr folgender: Wie ist ein nicht-hierarchisches Verhältnis zwischen diktierender Instanz und jenen Personen, die dem Diktat folgen, möglich?
Die Schwierigkeit, anstelle einer Gruppe zu sprechen, entsteht erst, wenn für diese Gruppe gesprochen werden soll. Das Problem ist doppelbödig: Einerseits geht es darum, dass ein Individuum für eine Menge anderer Menschen sprechen soll und diese im Zuge dessen keine Möglichkeit haben, für sich selbst zu sprechen. Andererseits geht es darum, dass das Benennen einer Gruppe ein Akt ist, mit dem diese Gruppe überhaupt erst symbolisch entsteht.
Damit heisst, im Namen dieser Gruppe zu sprechen, sich ihre symbolische Handlungsmacht anzueignen. Um eine Sache klarzustellen: Es handelt sich dabei fast immer um notwendige Übel. Jeder Stimme eine Handlungsmacht einzuräumen, bedeutet eine unglaubliche Verlangsamung der Entscheidungsfähigkeit, was bei grösseren Gruppen schnell in eine komplette Lähmung ausartet. Das Repräsentationsprinzip hat also die Funktion, die Gruppe überhaupt erst zum Handeln zu befähigen. Das ist ziemlich krass, weil das bedeutet, dass meinen Interessen auch dann gedient ist, wenn die Gruppe in einem einzelnen Fall gegen mein Interesse entscheidet. Aber hier soll es nicht darum gehen, ob und wann es wünschenswert ist, eine repräsentative Sprecher*in zu installieren oder nicht, sondern darum, wie es möglich ist, eine Fluidität zwischen Fürsprecher*in und anderen Gruppenmitgliedern zu institutionalisieren. Der Vorschlag, den ich unterbreiten möchte, besteht darin, dass dazu nichts weiter nötig ist, als die Partizipation zu virtualisieren. Wie soll das gehen? Das oben geschilderte Problem der Repräsentation legt zwei Weisen offen, wie eine Gruppe gebildet wird und woraus sie besteht. Demnach besteht eine Gruppe erstens aus einer Menge von Individuen, die sich zusammenschliessen. Der Unterschied zwischen einer Gruppe und einer Menge besteht dann darin, dass es sich bei der Gruppe nicht um ein blosses Aggregat von Einzelpersonen handelt, sondern um einen Kollektivkörper, der ein Innen gegen ein Aussen abschirmt. Die Teilhabe an der Menge ist die einer möglicherweise schicksalhaften, aber blossen Kookkurenz: Man befindet sich in derselben Lage wie die anderen Mitglieder der Menge, egal worum es sich bei dieser Lage handelt. Die Teilhabe an einer Gruppe ist demgegenüber die eines zielgerichteten Handelns. Ein Handeln, bei welchem die Handlung des Einzelnen dem Prinzip folgt, in einer Weise kooperativ zu sein, dass es dazu beiträgt, eine Handlung zu vollziehen, die nur aus dem Zusammenschluss möglich ist.
Zweitens besteht eine Gruppe aus einem symbolischen Imperativ: »Wir, das sind diejenigen, die Dies wollen oder Das vorhaben«. Aus diesem folgt nicht nur die Gruppenidentität, sondern er ermöglicht es einzelnen Gruppenmitgliedern, eine Handlung mit der Handlungskraft der Gruppe auszuführen. Es werden also zwei Formen von Partizipation sichtbar: An einer Gruppe teilzuhaben bedeutet erstens, mit dem eigenen Körper Teil eines Kollektivkörpers zu werden. Und zweitens, Anteil an der Erschaffung eines Textes oder eines Bildes zu nehmen, mit dem die Gruppe symbolisch formiert wird. Somit bringt jede Partizipationsform ein Diktat an die Gruppenmitglieder mit sich: Das Diktat, im Inneren der Gruppe so zu handeln, dass daraus das Kollektivhandeln hervorgeht, und das Diktat, nach Aussen so zu handeln, dass sich damit die Gruppe manifestiert.
Gruppenmitglied ist man demnach dann, wenn man durch sein Handeln dazu beiträgt, das Kollektiv zu bilden. Fürsprecher*in ist man dann, wenn man durch sein Handeln den Gruppengeist erzeugt.
Was könnte es nun heissen, die Partizipation zu virtualisieren? Im ersten Fall heisst das, die Partizipation zu entkörperlichen, im zweiten Fall, sie zu depersonalisieren. Entkörperlichen bedeutet, das Diktat zu streichen, dass das Handeln der Einzelnen der Herstellung des Kollektivs dienen soll, was darauf hinausläuft, den Kollektivkörper zu beerdigen. Dem folgend heisst depersonalisieren, das Diktat zu streichen, dass das Handeln der Einzelnen den Gruppengeist manifestieren soll, was bedeutet, den Geist der Gruppe zu exorzieren. Damit ist gesagt, was es heisst, virtuelle Partizipation negativ zu denken. Wie aber lässt sie sich positiv denken? Folgender Vorschlag: An die Stelle des Körpers tritt der Raum und an die Stelle des Geistes die Stimme. Partizipation heisst demnach, sich in einem Raum aufzuhalten, der dazu gemacht ist, dass darin gesprochen und Gesprochenes verstärkt werden kann. Also einen gemeinsamen Raum der Äusserung herzustellen. Dabei gewinnt Sprechen an Wirkkraft, wenn sich Sprecher*innen kooperativ verhalten, und dennoch hat jede Sprecher*in stets die Möglichkeit, in das kollektive Sprechen zu intervenieren. Eine Fürsprecher*in kann es in jedem Fall geben und zwar dahingehend, dass die anwesenden Sprecher*innen ihre Lautstärke reduzieren.
Diese Position der Fürsprecher*in ist fluid, weil sie graduel lschwanken, sich jederzeit auflösen oder zu einer anderen Person übergehen kann. Genau genommen handelt es sich nicht mehr um eine Fürprecher*in, sondern um jemanden, der zeitweise anstelle des Kollektivs spricht, und zwar nicht dahingehend, dass sie dieses Kollektiv ersetzt, sondern dass sie eine temporäre Leerstelle besetzt.
Genau in dieser Lage befinde ich mich, wenn ich diesen Text sc hreibe, nämlich nicht im Namen, sondern anstelle von Keine Klasse; ein körperloses Organ, das jedem die Möglichkeit gibt, esnach seinen Vorstellungen zu formen, und dem folgend hier etwas komplett Verschiedenes geschrieben stehen würde, hätte jemand anderes an meiner Stelle einen Beitrag für diese Publikation verfasst.