Eine wissenschaftliche Disziplin wird vom Wissenschaftssoziologen Rudolf Stichweh als «primäre Einheit interner Differenzierung der Wissenschaft» definiert (1994: 17). Die verschiedenen Disziplinen sind bis heute die massgeblichen institutionellen Einheiten von Forschung und Lehre an Universitäten und Fachhochschulen. Disziplinen werden in organisatorische Einheiten wie Fakultäten, Departemente, Fächer und Arbeitsgebiete gegliedert. Disziplinarität bezeichnet in Folge dessen die disziplinäre Ordnung eines wissenschaftlichen Systems. Zur Identifizierung einer wissenschaftlichen Disziplin wird typischerweise auf eine bestehende scientific comunity, einen wissenschaftlichen Kanon von Forschungsliteratur und Lehrbüchern, eine Anzahl an spezifischen Fragestellungen, Forschungsmethoden sowie Karrierestrukturen, verwiesen (Balsiger 2005: 72).

Die klare Aufteilung in disziplinäre Strukturen ist ein relativ junges Phänomen der neuzeitlichen Wissenschaft. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts hat sich sowohl in der Naturwissenschaft wie auch in den Geisteswissenschaften eine Ausdifferenzierung der ersten Disziplinen ergeben. So sind beispielsweise die Physik, die Chemie aber auch die Literaturwissenschaften in dieser Zeit entstanden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts formierten sich die Sozialwissenschaften zu einem dritten Disziplinbereich (Stichweh 1994: 18).

Kritik an einer universellen disziplinären Ordnung und damit verbunden auch an einer universellen Erkenntnistheorie wird 1935 erstmals durch den Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck und 1962 durch den Wissenschaftsphilosophen Thomas Kuhn laut. Wissenschaftliche Disziplinen werden als konstruiert und als «Formen sozialer Institutionalisierung» betrachtet. Deren Abgrenzung voneinander ist bis heute vergleichsweise unklar (Stichweh 1994: 17). Zusammenfassend lässt sich die Unterscheidung von wissenschaftlichen Disziplinen vor allem auf historische und praktische Gründe zurückführen. Wissenschaftliche Disziplinen sind eine notwendige «Reduktion eines Erkenntnisganzen» (Balsiger 2005: 57) und können als historisch gewachsene Reproduktion gemeinsamer Tätigkeit subsumiert werden (Gutmann 2005: 63). In der Wissenschaftstheorie bestehen verschiedene Konzepte zur genauen Auslegung des Begriffs der wissenschaftlichen Disziplin (vgl. Popper 1963/2009; Laitko 1987; Stichweh 1997).

Jürgen Mittelstrass betrachtet Disziplinarität wie auch Inter- und Transdisziplinarität als «forschungsleitende Prinzipien», die im Gegensatz zur täglichen Praxis eher als «idealtypische Formen wissenschaftlicher Arbeit» betrachtet werden müssen (Mittelstrass 2005: 20-21). Mischformen von allen drei Begriffen seien im wissenschaftlichen Betrieb ganz normal.

 

Literatur

Balsiger, Philipp: Disziplinäre Forschungsprozesse. In: Ders.: Transdisziplinarität: Systematisch -vergleichende Untersuchung disziplinenübergreifender Wissenschaftspraxis. München 2005. S. 49-132.

Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Schäfer, Lothar; Schnelle, Thomas (Hg.). Frankfurt a. M. 1980. (Reprint der 1. Auflage von 1935)

Gutmann, Mathias: Disziplinarität und Interdisziplinarität in methodologischer Sicht. In: Theorie und Praxis, Vol. 2, Nr. 14, 2005, S. 69-74.

Kuhn, Thomas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M. 2003. (1. Auflage 1962)

Laitko, Hubert; Guntnau, Martin (Hg.): Der Ursprung der modernen Wissenschaften: Studien zur Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen. Berlin 1987.

Mittelstrass, Jürgen: Methodische Transdisziplinarität. In: Technikfolgenabschätzung. Theorie und Praxis, Vol. 14, Nr. 2, 2005, S. 18-23.

Popper, Karl: Vermutungen und Widerlegungen: Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis. Tübingen 2009. (1. Auflage 1963)

Snow, Charles P.: The Two Cultures and the Scientific Revolution. Cambridge 1959.

Stichweh, Rudolf: Wissenschaft, Universität, Professionen: Soziologische Analysen. Frankfurt a. M. 1994.

(vr)

 


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