Der Begriff Lebenswelt bezeichnet im Allgemeinen die vorwissenschaftliche Welt im Gegensatz zu einer von wissenschaftlichen Erkenntnissen geprägten Welt. Der Philosoph und Mathematiker Edmund Husserl führte Anfang des 20. Jahrhunderts den Begriff in die Phänomenologie ein und kritisierte damit die zunehmende Objektivierung alltäglichen Lebens infolge der modernen Wissenschaften. Nach Husserl versuchen die modernen Wissenschaften die Welt objektivistisch zu erklären und vergessen dabei, konkrete Lebensfragen oder Themen der sinnlichen Erfahrung zu behandeln. Für Husserl ist diese Trennung zwischen wissenschaftlicher Theorien und praktischen Alltagserfahrungen nicht möglich, da die Wissenschaft auf der Lebenswelt gründet und ihre (Forschungs-)Themen daraus ableitet. Somit fordert er den Einbezug der Lebenswelt in wissenschaftliche Tätigkeiten (Rolf 2010: 1385-1387).

Der Begriff Lebenswelt wird seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften verwendet. Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas erweitert den Begriff durch die soziale Komponente des «kommunikativen Handelns». In diesem Sinne versteht Habermas unter Lebenswelt nicht nur den Bezug einer Person zu ihrer Umwelt, sondern auch – und vor allem – die Interaktion zwischen verschiedenen Subjekten (Rolf 2010: 1387-1388).

Der Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstrass setzt 1992 den Begriff Lebenswelt in seiner Theorie der Inter- und Transdisziplinarität ein. Mittelstrass verwendet den Begriff verallgemeinernd als Gegensatz zur Wissenschaft und leistet kaum eine präzise Definitionsarbeit am Begriff selbst. Lebenswelt beschreibt bei Mittelstrass unterschiedliche und ausserhalb der Wissenschaft angesiedelte Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen, deren Probleme keiner wissenschaftlichen Disziplin zugeordnet werden können (Mittelstrass 2005: 18-23). Die Lebenswelt erhält als Begriff keine neue, für die Transdisziplinarität eigene Bedeutung, wird aber trotz ihrer Unschärfe in vielen Theorien der Transdisziplinarität aufgenommen und entwickelt sich zu einem wichtigen Forschungsbegriff der Transdisziplinarität (Nowotny 2001; Hirsch Hadorn 2008). Der konkrete Einbezug der Lebenswelt in die transdisziplinäre Forschung wird im gegenwärtigen Diskurs unterteilt in ein inner- und ein ausserwissenschaftliches Prinzip (→ Forschung).

Trotz des inflationären Gebrauchs und der Unschärfe des Begriffs Lebenswelt zeigt dessen Verwendung einen zentralen Aspekt der transdisziplinären Forschung auf. Der Einbezug der Lebenswelt ermöglicht neue Perspektiven, Fragestellungen und Arbeitsweisen, die in disziplinären Spezialisierungen nicht aufgenommen werden.

In aktuellen Kunstformen zwischen den Künsten und Alltagspraktiken spielt der Bezug zu konkreten lebensweltlichen Aspekten eine grosse Rolle. Der Einbezug von «Experten des Alltags» in die Performance-Kunst (Rimini Protokoll) oder die Verschmelzung von politischer Kritik und Kunst (Ai Wei Wei) sind nur zwei von vielen zeitgenössischen Beispielen. Der Begriff Lebenswelt wird aber im Diskurs der Transdisziplinarität in den Künsten nicht klar definiert.

 

Literatur

Nowotny, Helga; Scott, Peter; Gibbons, Michael: Re-thinking Science: Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty. Cambridge 2001.

Hirsch Hadorn, Gertrude; Hoffmann-Riem, Holger; Biber-Klemm, Susette; Joye, Dominique; Pohl, Christian; Wiesmannn, Urs; Zemp, Elisabeth (Hg.): Handbook of Transdisciplinary Research. Dordrecht 2008.

Mittelstrass, Jürgen: Leonardo-Welt: Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung. Berlin 1992.

Mittelstrass, Jürgen: Methodische Transdisziplinarität. In: Technikfolgenabschätzung. Theorie und Praxis, Vol. 14, Nr. 2, 2005, S. 18-23.

Rolf, Thomas: Lebenswelt. In: Hans Jörg Sandkühler: Enzyklopädie Philosophie. Hamburg 2010.

(lt, vr)

 


Kommentare



Name (required)

Email (required)

Website

Hinterlasse einen Kommentar