Ein Beitrag von Carla Isler, Studierende des Master Art Education, bilden & vermitteln.

Aktionsforschung; Illustrationen zu Machttheorien von Jugendlichen für Jugendliche
Ein Versuch Lehr- und Lerninhalte auf gymnasialer Stufe zu aktualisieren

Wie wird Wissen legitimiert und Bestandteil des Lehrplans? Auf welche Legitimation beziehe ich mich als Lehrerin, wenn ich Machttheorien im Unterricht behandeln möchte, ohne dass sie im Lehrplan vertreten sind?
Von kritischer und poststrukturalistischer Theorie informierte Ansätze, Gesellschaft neu zu denken, werden hauptsächlich in der akademischen Lehre und Forschung verhandelt. Für eine differenzierte und reflektierte politische Meinungsbildung ist es in der Perspektive des hier beschriebenen Vorhabens notwendig, Machttheorien ebenfalls für die gymnasiale Stufe zugänglich zu machen.
Wie lassen sich akademische Machttheorien ausserhalb der universitären Lehre und Forschung zugänglich und verhandelbar machen? Dieser Thematik ging ich im Rahmen einer Aktionsforschung in einem sehr klar begrenzten pädagogischen Format mit Fokus auf einzelne Aspekte nach. Dabei handelt es sich um einen Versuch, eine Aktualisierung von Lehr- und Lerninhalten auf gymnasialer Stufe anzugehen.

Meine Motivation für dieses Vorhaben entstand durch die eigene Auseinandersetzung mit dem Text „Das Unbehagen der Geschlechter“[1], welchen ich in meinem Atelier auf einem Leinwandplakat darzustellen versuchte. Anlass für diese bildnerisch-gestalterische Auseinandersetzung war, dass ich mich in Diskussionen in meinem Alltag wiederholt auf akademische und theoriebasierte Argumente beziehe, welche meinen Mitdiskutierenden nicht immer zugänglich zu sein scheinen. Vielleicht aus Ermüdung von dieser sich wiederholenden Erfahrung, war es mir ein Anliegen, auf den Inhalt einiger Texte nicht mehr nur empfehlend hinzuweisen, sondern einen aufwandreduzierten Zugang zu ermöglichen. Entlang von persönlich gewählten und formulierten Kernaussagen der Texte, versuchte ich visuelle und plakative Illustrationen zu erstellen. Ich beabsichtigte, auf das Konstrukt von sexueller und gesellschaftlicher Identität und den daraus resultierenden Ausschlüssen hinzuweisen. Nach der Fertigstellung fiel mir durch die Wahl meines Bildmotives auf, dass ich zwar eine Irritation der bestehenden Abbildung der ‚Norm’ erreicht hatte, dabei jedoch durch eine Festschreibung neue Ausschlüsse produzierte. Dies war für mich der erste bewusst wahrgenommene Moment, der mir das Dilemma zwischen Theorie und Praxis vor Augen führte. Durch die Motivation, diese Diskrepanz genauer zu untersuchen, entstanden die ersten Überlegungen zur vorliegenden Masterarbeit. Was gibt es für konstruktive Ansätze, um sich dem Scheitern dieser komplexen Theorie in der bildnerisch-gestalterischen Praxis nicht machtlos ausgesetzt zu fühlen?
Dieses Anliegen fiel mit meinem Antrieb im Bereich der Vermittlung solcher Themen auf gymnasialer Stufe zusammen. Mein pädagogisches Ziel ist in diesem Fall deckungsgleich mit dem von Maureen Maisha Eggers und zwar „mich selber und Jugendliche fit zu machen, um mit bestehender Normalität und Realität von [Diskriminierung] umzugehen. Dies, um in den anhaltenden [diskriminierenden] Verhältnissen handlungsfähiger und vielleicht sogar handlungsmächtiger
zu werden.“[2]
Des Weiteren sind gymnasiale Ziele unter anderem als vertiefte Gesellschaftsreife, allgemeine Studierfähigkeit und Verknüpfung von diversen Sachverhalten zu verstehen. Die Persönlichkeitsentwicklung, Selbstpositionierung und die politische Meinungsbildung sind im Jugendalter zentrale Grundthemen. Nimmt man das Bildungsziel, selbstdenkende, mündige Menschen auszubilden[3], ernst, so würde dies aus meiner Perspektive bedeuten, bereits bestehende gesellschafts- und machtkritische Denkansätze den Schüler_innen offen zu legen und für die eigene Meinungsbildung zur Verfügung zu stellen. Um sich den oben beschriebenen Lernzielen anzunähern, ist eine Aktualisierung von Lehr- und Lerninhalten auf gymnasialer Stufe aus meiner Sicht notwendig. Ein gesellschaftskritischer Umgang sowie der Zugang zu Machttheorien und deren Ideologien sollten somit für eine differenzierte Auseinandersetzung auf gymnasialer Stufe sichergestellt werden.
Im Rahmen eines eintägigen Sonderprogramms habe ich an der Kantonschule Stadelhofen mit 20 Schülerinnen und zwei zusätzlichen Lehrpersonen Illustrationen zu Textausschnitten von Judith Butler, Susan Arndt und Stuart Hall erstellt. Die Aufgabenstellung für die Produktion der Illustrationen lautete, den vielschichtigen und differenzierten Charakter des jeweiligen Textes in ein Bild zu übersetzen und dabei die zentralen Inhalte und Absichten des Textes aufrecht zu erhalten. Im Anschluss daran wurde untersucht, ob die Illustrationen den Jugendlichen einen altersgerechten, visuellen Zugang zu den akademischen Inhalten ermöglichen. Dafür wurde eine Gegenprobe in Form von qualitativen Fragebögen verwendet.
Bei meiner Forschung handelte es sich um ein Experiment mit offenem Ausgang. Denn inwiefern das Illustrieren von Machttheorien gelingen kann, ist aus mehreren Gründen fraglich. Nicht zuletzt, weil jede Visualisierung auch immer eine Festschreibung bedeutet. Ein Vorgang, der durch die in Frage stehenden Texte gerade aufgrund seiner Durchdringung von Macht und Herrschaft analysiert wird.
Mein Interesse an dieser Aktionsforschung setzt deswegen vor der Frage des Gelingens an und fokussiert sich stattdessen auf die pädagogische Anordnung und deren Dynamiken, welche sie im Stande ist freizusetzen. Meine Themenfrage lässt sich wie folgt stellen:
Was passiert, wenn Jugendliche für Jugendliche Illustrationen zu Machttheorien entwickeln? Diese Frage habe ich in meiner Analyse auf drei Ebenen untersucht. Zuerst habe ich die Dynamiken, welche durch die Auseinandersetzung und die Gestaltung der Illustrationen frei gesetzt wurden, untersucht. Anschliessend das im Unterricht entstandene Material auf den Umgang mit Reproduktionen, Verschiebungen und Verlagerungen von Machtverhältnissen analysiert und am Schluss die illustrierten Textinhalte mit den Ausgangstexten verglichen.
Das Ausmass meines Vorhabens, die gymnasiale Wissensvermittlung zu aktualisieren und dafür Machttheorien zu thematisieren, wurde mir im Laufe meiner Arbeit erst so richtig bewusst:
Die Durchführung und die Ergebnisse meiner Aktionsforschung haben gezeigt, dass die Verlagerung der Auseinandersetzung mit Machttheorien direkt im bildnerisch-gestalterischen Unterricht fruchtbar sein kann. Die eigenen, sowie die Handlungsmöglichkeiten von Jugendlichen mit Jugendlichen in anhaltenden Ungleichheitsverhältnissen zu erproben, war ein einflussreicher Bestandteil dieser Forschung. Das Schöpfen aus bestehenden Theorien empfand ich dabei als grosse Bereicherung. Die unterschiedlichen Diskussionen in den Kleingruppen erwiesen sich als sehr wertvoll, weil darin die individuellen Anliegen der Schülerinnen zur Thematik zum Vorschein kamen und Raum erhielten. Das Erarbeiten der Illustrationen hat sich als geeignete Methode bewiesen, (eigene) hegemoniale Konstruktionen zu benennen. Das bedeutet, dass problematische Konstruktionen durch das Illustrieren nicht nur aus Distanz kritisiert wurden, sondern durch die gestalterische Umsetzung ermöglicht wurde, potenzielle Verschiebung auszuhandeln und mitzuformen. Ebenfalls wurde durch das eigene Erstellen die ‚Gemachtheit’ von Wissen näher gebracht.
Die Auseinandersetzung mit den Jugendlichen hat gezeigt, dass eine Offenheit und Bereitschaft, sich gemeinsam fit zu machen, um in den bestehenden Machtverhältnissen zu agieren, die Rolle von Schüler_innen, aber auch von Lehrperson neu befragt.
Bei der Untersuchung der Lesbarkeit der Illustrationen wurde ersichtlich, dass das Abbilden der ‚Norm’ an sich keine kritische Lesbarkeit provoziert. Je nach Hintergrundwissen des/r Betrachter(s)_in kann es daher passieren, dass das reproduzierte Machtverhältnis aktualisiert, aber nicht hinterfragt wird. Trotzdem lässt sich sagen, dass die Illustrationen die thematisierten Anliegen durchaus in sich tragen und gut als Grundlage für eine Diskussion dienen können. Es wurde ersichtlich, dass eine gut gemachte Illustration Fragen aufwirft; diese Illustrationen können als Bildmaterial gesehen werden, an dem kritisches und vorurteilsbewusstes Betrachten von Konstruktionen geübt werden kann.
Der Raum und die Zeit, mit den Illustratorinnen über die eigenen Illustrationen zu sprechen, kam aus meiner Sicht in diesem Forschungssetting zu kurz. Dies auch bezogen auf die ideenreichen Umsetzungen, welche die Illustrationen aufweisen. Darin finde ich ein unausgeschöpftes Potenzial für eine relevante Diskussionsgrundlage. Dies sehe ich vor allem in der Verwendung von Reproduktionen, Verschiebungen und Verlagerungen, welche die Schülerinnen verwendet haben, um problematische Konstruktionen zu thematisieren.
Im Anschluss an den vorliegenden Forschungsbeitrag wäre es interessant zu verfolgen, ob die Vermutung, dass die Kategorisierungen (Problematik, Forderung, Lösungsansatz), welche in den Illustrationen erkennbar sind, die Reichweite und Zugänglichkeit für Jugendliche verbessern lässt, verhärtet werden kann.
Bei vielen Illustrationen lässt sich der eigene Zugang der Illustratorinnen zu den verwendeten Beispielen nicht zurückverfolgen. Griffen die Schülerinnen dabei auf eigene Erfahrungen von Diskriminierungen zurück oder orientierten sie sich an Erzählungen aus ihrem Umfeld? Hat die Wortwahl in den Textausschnitten diese Bilder ausgelöst oder liessen sich die Schülerinnen von dem bestehenden Bildmaterial in den Zeitschriften inspirieren? Handelt es sich in manchen Illustrationen um die Reproduktionen von Diskriminierungen wie es in den Medien dargelegt wird? Orientieren sich die Schülerinnen beim Begriff Diskriminierung an Mainstreamdarstellungen oder visualisieren sie wenig thematisierte Alltagsdiskriminierungen?
Um die Lesbarkeit der Illustrationen vertieft zu untersuchen, wäre es weiterführend spannend zu vergleichen, wie die Illustrationen von Jugendlichen verstanden werden, die noch keinen der Texte gelesen haben.
Als zukünftige Lehrperson finde ich beim Unterrichten wichtig, Unsicherheiten und die eigene Suche für einen Umgang bei der Thematik von Machttheorien auf gymnasialer Stufe offenzulegen. Dies vor allem mit dem Anspruch, dass die Lehrperson nicht wieder als Vermittler_in von festgeschriebener Wahrheit und somit als Aktualisierer_in von bestehenden Machtverhältnissen auftritt. Damit Normen flexibel werden können, soll die Vermittlung von Machttheorien auf gymnasialer Stufe im Fach Bildnerisches Gestalten als Hilfsmittel dienen, Handlungsräume zu befragen und zu erarbeiten. Ausgehend von meiner anfänglichen Motivation empfand ich die gestalterische Auseinandersetzung mit den Jugendlichen als konstruktiven Prozess, die Schwierigkeit von Festschreibungen durch Visualisierungen für die Aneignung der Thematiken zu nutzen.1

 

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Die Originalgrösse der Illustrationen entspricht DIN A4 (297 x 210mm).
Diese wurden mit bereits bestehenden Bildern aus Zeitschriften und Filzstift gestaltet.
Die Kernaussagen, die Bildbeschreibungen und die Illustrationen wurden am 23. März 2016 in der Klasse 2gM an der Kantonschule Stadelhofen Zürich, ausgehend von den Textausschnitten von Judith Butler, Susan Arndt und Stuart Hall, erarbeitet und erstellt.

 

Bildlegenden:

1_Illustration Abb. 2.2, 2016 von: Sarina P.
Interpretation von: Veronica A.
In Anlehnung an: Susan Arndt (Hg.) (2001): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland, Münster: UNRAST Verlag     (S.86-101).

 

2_Illustration Abb. 3.1, 2016 von: Leonie K.
Interpretation von: Johanna W.
In Anlehnung an: Stuart Hall; Juha Koivisto (2004): Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg: Argument Verlag (S.108-109, S.118-121).

 

3_Illustration Abb. 1.3, 2016 von: Hanna G.
Interpretation von: Cédrine G.
In Anlehnung an: Judith Butler (1956-1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: Suhrkamp (S.22-33).

 

4_Illustration Abb. 1.2, 2016 von: Johanna W.
Interpretation von: Kim M.
In Anlehnung an: Judith Butler (1956-1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: Suhrkamp (S.22-33).

 

5_Illustration Abb. 2.1, 2016 von: Laura F.
Interpretation von: Emilia N.
In Anlehnung an: Susan Arndt (Hg.) (2001): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland, Münster: UNRAST Verlag (S.86-101).

 

6_Illustration Abb. 1.4, 2016 von:  Lea H.
Interpretation von:  Laura F.
In Anlehnung an: Judith Butler (1956-1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: Suhrkamp (S.22-33).

 

7_Illustration Abb. 1.6, von: Chiara H.
Interpretation von: Priya R.
In Anlehnung an: Judith Butler (1956-1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: Suhrkamp (S.22-33).

 

[1] Butler, Judith (1956-1991): „Das Unbehagen der Geschlechter“, Frankfurt am Main: Suhrkamp

[2] Eggers, Maureen Maisha über Kinderbücher und Empowerment (Teil 3): https://www.youtube.com/watch?v=4e4WU3Z8mnM (zuletzt besucht am 06.05.2016)

[3] vgl. http://edudoc.ch/record/17476/files/D30a.pdf (S.12) (zuletzt besucht am 07.05.2016)