Fluchtpunkte

(von Gerhard Meister)

Er lese alles, sagte er, dadurch zeichne sich ein wahrer Leser aus, dass es keine Grenze gebe zwischen Lesbarem und Nichtlesbaren, die Buchstaben, die Schrift, das sei das Entscheidende und so könnten ihm Prospekte für Gartenstühle vor die Augen geraten oder Texte von Management-Trainern oder irgendwas anderes, wofür er als Zielgruppe ganz offensichtlich nicht vorgesehen sei und er finde trotzdem etwas, an dem er hängen bleibe, etwas, das ihn interessiere, auch wenn es mit seinem Leben nichts zu tun habe, oder gerade deswegen. Zum Beispiel ein Nagelset mit einem Schleifpapier, dessen Körnung sich wie die Haut einer Eidechse anfühlt. Das sei doch was. Da habe er gleich ein Bild, eine Empfindung, die auch für ihn, den aus der Zielgruppe Ausgeschlossenen, etwas hergebe, eine Eidechse, das ist Sommer, eine von der der Sonne beschienene Mauer, in der diese Tiere verschwinden, notfalls unter Zurücklassung ihres Schwanzes, falls man sie an diesem festhalten wolle. Kann man Eidechsen über den Kopf streicheln? Oder fällt ihnen der dann gleich ab und der Rest der Eidechse haut ab? Ist es möglich, Eidechsen zu zähmen, eine Bindung zu entwickeln zu diesem kleinen wechselwarmen Tier, sein Vertrauen zu gewinnen, so dass es sich von mir über seinen Kopf streicheln lässt? Ein Kopf, dessen Haut an grobkörniges Nagelschleifpapier erinnert?

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