Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. »Gemengsel und Gehäcksel« meint bestimmte Arten von vermengten und gehackten Speisen. Genau genommen sind zwar alle mehr als aus einem Grundstoff bestehenden Gerichte Vermengungen, doch in der »Topografie der Gemengsel und Gehäcksel« liegt das Augenmerk bei jenen, die durch Vermählung der einzelnen Zuraten eine neue Gestalt und ein neues Wesen gewinnen. So besteht beispielsweise ein Salat oftmals zwar aus vielen einzelnen Zutaten , doch diese bleiben in ihrer spezifischen Qualität erkennbar.
Ein Gemengsel für Knödel oder Wurst dagegen ergibt eine konsistente Masse von neuer Qualität und ist deshalb mehr als nur die Summe seiner Teile.
„Die Franzosen sind, wenn nicht die ersten Erfinder, doch die Verbreiter aller GehäckseI und Vermengungen«, notierte Kar! Friedrich Freiherr von Rumohr 1822 in seinem »Geist der Kochkunst“. Er war kein Freund der überfeinerten, artifiziellen Küche, die zu dieser Zeit vom französischen Bürgertum geschätzt wurde und deren Rezepte Eingang in viele zeitgenössische deutsche Kochbücher fanden. Rumohr dagegen suchte die „eigentümliche Güte und Schmackhaftigkeit der eßbaren Naturstoffe« in der Zubereitung zu bewahren. Mit GehäckseI und Vermengungen bezeichnete er ausschließlich den Bereich der Pasteten und Terrinen. Die Topografie der Gemengsel und GehäckseI versucht nun die Gesamtheit dieser speziellen Speiseart zu erfassen.
Die Unscharfen in den Randbereichen eines solchen Unterfangens liegen in der Natur der Sache. Nicht nur die Kartografie lehrt, dass Abbildung immer Annäherung sein wird und jede Ordnung der Dinge unvollständig bleiben muss. Dieser Sachverhalt ist aber nicht etwa ein Manko , denn er zeigt, dass die Vielfaltigkeit von Welt sich nur begrenzt in eine Struktur zwängen lässt. In diesem Sinne werden in diesem Buch auch immer wieder Speisen aufgeführt, die im strengen Sinne nicht direkt zu den Gemengseln und Gehäckseln zu zählen sind, aber die jeweilige Speisenkategorie erweitern. »Erfunden« wurden die unzählbaren Arten von Vermengungen sicher nicht, sondern sie entwickelten sich aus Notwendigkeit. Ein wesentliches Moment dieser Entwicklung war Armut und die mit ihr einher gehende Resteverwertung. Wo altes Brot sich ansammelte, sind Arten von SemmelknödeIn, Brotpuddingen oder -suppen entstanden. In Ermangelung eines wirklichen Bratens entstand der aus Kleinfleisch hergestellte „Falsche Hase« und mit Fischresten aromatisierter Kartoffelbrei wurde in Italien zum „pesce finto«, dem falschen Fisch. So bildeten die Gemengsel und GehäckseI ursprünglich die Antithese zum »pièce de résistance«, dem Hauptstück der feudalen wie der bürgerlichen Tafel. Mit der Zeit verloren diese Gerichte aber den Beigeschmack der Not und gingen in den Rezeptkanon der verschiedenen Küchen ein.
Aus: Dieter Fröhlich, Topografie der Gemengsel und Gehäcksel, Hannover 2010
Siehe auch Veranstaltung Gehäcksel und Gemengsel