Chicorée

Chicorée, Fredi Murer, CH 1966, 16mm, bw/color, sound, 27 Min.

Versions

King Melchior (Titel des Films bei der Ur-Aufführung in St.Gallen, 1966)

Credits

Production
Cast
Camera
Music
Other

Synopsis

[up to 10 lines]

Distribution

Screenings

First screening:

Poëtenz-Soirée St. Gallen, 7. Mai 1966 (als “King Melchior“, siehe Zeitungsartikel St.Galler Tagblatt (undatiert), In: Gwerder, Urban: Im Zeichen des Magischen Affen)

Other screenings
Kurzfilmtage Oberhausen 1967

Awards

Preis der Internationalen Jury, Kurzfilmtage Oberhausen 1967

Materials

Gwerder, Urban: Im Zeichen des Magischen Affen, Zürich 1998:
“Fredi Murer spielte schon lange mit dem Gedanken, einen Film mit der langhaarigen nonkonformistischen Gwerder-Familie zu drehen. Wir hatten auch schon darüber gesprochen. Also ging ich zu ihm mit meinen Ideen und fand, der Zeitpunkt wäre jetzt günstig dafür, weil wir dann bald damit auftreten könnten. Via einen jungen Fan meiner Gedichte und Lebenshaltung lag auch schon ein Angebot von einem Kellertheater [St.Gallen? – vgl. Murer-Interview von Thomas in Cinémémoire] vor… Fredi war spontan interessiert und rasch entschlossen. Bald tauchte er auf mit einer grundlegenden Konzeptidee und ein paar Ablauf-Notizen – die Dreharbeiten konnten beginnen. Weil das Datum für die erste Poëtenz-Show inzwischen gegeben war, hatten wir für alles nur einen knappen Monat Zeit (inklusive Entwickeln und Schneiden)! Es gibt allerlei Legenden zu unserem Film CHICORÉE, und sie sind mehr oder weniger unbeabsichtigt/ungezielt zu solchen geworden. Meine klaren/verklärten Erinnerungen dazu sollen deren Wert oder Unwert weder schmälern noch steigern. Chicorée ist eh eine lebende Leinwand-Legende und spricht von Generation zu Generation für sich selber. Produktionsgeld war keines vorhanden, d.h. Fredi konnte von seiner Qualitätsprämie, die er für Pazifik – oder die Zufriedenen erhalten hatte, etwa 4000.- abzweigen für Filmmaterial und Entwickeln. Alles andere mussten wir improvisieren, selber machen, einteilen. Jede Einstellung filmten wir nur einmal, und die meisten Einfälle und kleineren Gags entstanden spontan während der Dreharbeit. Ich staune heute noch, wie wenig unverwendetes Filmmaterial nach dem End-Schnitt übrigblieb: es handelte sich lediglich um ein paar Meter – und auch diese wurden nicht weggeworfen. Ich schnitt die Streifen in einzelne Bildchen auf, befestigte je eine Stecknadel daran, um sie bei den ersten Veranstaltungen als Souvenir-Ansteckfähnchen mit den Tickets zu verteilen… Einen Verlust hatten wir aber trotzdem zu beklagen. Bei der Szene am Schluss, wo ich vom Himmel in den Dreck herunterfalle und mich im Lehm wälze, wäre es ungeplant weitergegangen. Ich hatte mich immer dicker eingeschmiert und wankte zuletzt als stetig steifer werdender Go-Lehm aus dem Steinbruch, um endlich am Horizont ganz zu verschwinden. Fredi hatte begeistert weitergefilmt und mich noch angefeuert – um dann feststellen zu müssen, dass die Spule in der Kamera schon vorher ausgelaufen war.
Einzelne Szenen waren recht abenteuerlich und erforderten ziemlich Mut und Konzentration. So z.B. da wo die ganze Stadt vor meiner Solo-Demo “Wollt ihr den totalen Urban?” zurückweicht, mussten wir ja notgedrungen unbewilligt einen offiziellen Ostermarsch umfunktionieren. Natürlich waren wir fluchtbereit, und zum Glück kannte Fredi zufällig einen begleitenden Mofa-Polizisten, dem er schmackhaft machen konnte, dass er da eine Dokumentation filmen müsse… Oder dort wo ich durch mein explodierendes Bild springe, um nachher am Himmel zu schweben: wir hatten nur eine so grosse Leinwand, auch keine Farben mehr, und nur eine Bombe. Freund Nold hatte sie einmal beim Militär mitlaufen lassen, und keiner von uns hatte eine Ahnung ob Übungsgranate, Rauchbombe oder was. Also setzten wir alles auf eine Karte: auf Abzählkommando würde Fredi filmen, ich durch das Bild hindurch hechten, und Nold gleichzeitig die Bombe anreissen und unter mich werfen! Ich machte die Hechtrolle meines Lebens, hoch und weit, und raste davon. Wie ich nach einem weiten Bogen zum Schauplatz zurückkehre, sind die Rauchschwaden, eine surrende Kamera auf dem Stativ, und kein Mensch weit und breit – alle waren sie sofort in Deckung gegangen. So hätte der Film auch mein Nachruf werden können, und Fredi hätte ihn gewiss mit einem Trauerrand versehen…
Auf das Konzept mit der Perücke kamen wir, weil ich Mitte ’65 meine Haare schnitt, um sie erst nach Chicorée wieder wachsen zu lassen. Mit den Pilzköpfen der Beatles wurden längere Haare langsam Mode, und die Öffentlichkeit begann, agressiver darauf zu reagieren.
[…]
Alle bewegten Schwenks z.B. hat Fredi aus der Hand gemacht (mit vielleicht 1-2 mal den Ablauf simulieren als Übung); die Aufnahmen von oben bewerkstelligte er, indem er die Kamera an eine lange Stange band, die wir dann zu zweit oder dritt sorgfältigst über dem gewünschten Bildausschnitt in etwa balancierten. Oder die Inside-Jokes: taucht doch in der Altstadtspaziergang-Szene zufällig Theo Pinkus, bekannter Buchhändler und Kommunist auf, spricht mit uns, und wie er sieht, dass dies gefilmt wird, fährt er sich mit der Hand ins Gesicht. Das sieht jetzt aus, als hätte er sich eine Maske aufgelegt, weil ab dieser Geste Fredi von Hand auf jedem Bild Theos Gesicht rot eingefärbt hat. So viel Liebe zum Detail! Das Grösste kommt noch. Chicorée hatte an unserer ersten Poëtenz-Soirée in St. Gallen am 7. Mai 1966 Welt-Uraufführung. Während die Onion Gook mit mir die Bühne einrichteten, liess uns Fredi erstmals den fertigen (27-minütigen 16mm-) Film laufen. Er selber war ziemlich unzufrieden damit, wir nicht sonderlich begeistert. Ein witziger Souvenirfilm. während wir alle, die Band, Freunde, Freundinnen im nahen Restaurant den Abend vorbereiteten, blieb Fredi mit seinem Filmschneidegerät allein im Theater. Was wir dann selber während unserem Auftritt erlebten (seitenverkehrt hinter der Leinwand, und improvisiert live-vertont) war ein kleines Wunder! In nur 2-3 Stunden hatte Fredi seinem Film diesen wunderbaren genialen rhythmischen Schnitt verpasst, der ihn zu dem machte, was er jetzt noch ist.
Am Anfang waren die Reaktionen darauf ziemlich gemischt, das heisst unser Poëtenz-Publikum liebte den Film meist auf Anhieb, hingegen die Presse war widersprüchlich bis giftig und unter der Gürtellinie. Es brauchte schon die einhellige Begeisterung und Preise im Ausland (Amsterdam, Oberhausen, Knokke), bis hier der “Prophet im eigenen Land” die verdiente Aufmerksamkeit bekam.
(unpaginiert)

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