Das Projekt «Dada – Spektakulationen» versucht durch den Rückgriff auf unterschiedliche Materialien diverse Blickwinkel zu eröffnen. Da Dada als Bewegung damals wie heute ungreifbar scheint, sind die unzähligen Versuche, Dada dennoch zu definieren, sehr vielversprechend. Um ein Gefühl für das vielgestaltige Eigenverständnis der ursprünglichen Dadaist_innen zu bekommen, haben wir auf historische Eigendefinitionen zurückgegriffen.

Die Suche nach einer (Selbst-)Definition von Dada zu Zeiten grosser Wirren und unglaublichem Leid interpretieren wir als Suche nach Identität in der Abwendung zur bürgerlichen Gesellschaft, ihren Normen, Werten und Konventionen. Die Hybridität der Bewegung mag der Macht- und Hilflosigkeit in Paarung mit grosser Schöpfungskraft und Gegenhaltung zum Bisherigen entsprungen sein.

Mit diesen Gedanken versuchen wir, den Anfang der Dada-Mythenbildung aufzunehmen, ohne dabei den Mythos selbst zu affirmieren. Durch die Zusammenstellung unterschiedlicher Definitionen zielen wir auf die Schaffung einer mannigfaltigen Perspektivierung von Dada, die sich im individuellen Bild der Besucher_innen spiegelt, verfremdet oder überlagert.

 

1 _

Dada heißt im Rumänischen Ja Ja, im Französischen Hotto- und Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen.

Ball, Hugo. In: Merte, Angela (1994): Dada total: Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. Stuttgart: Reclam, S. 22.

 

2 _

Der Dadaist kämpft gegen die Agonie und den Todestaumel der Zeit. Abgeneigt jeder klugen Zurückhaltung, pflegt er die Neugier dessen, der eine belustigende Freude noch an der fraglichsten Formel der Fronde empfindet. Er weiß, dass die Welt der Systeme in Trümmer ging, und dass die auf Barzahlung drängende Zeit einen Ramschausverkauf der entgötterten Philosophien eröffnet hat. Wo für die Budenbesitzer der Schreck und das schlechte Gewissen beginnt, da beginnt für den Dadaisten ein helles Gelächter und eine milde Begütigung.

Ball, Hugo. In: Merte, Angela (1994): Dada total: Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. Stuttgart: Reclam, S. 24.

 

3 _

Man verzichte mit dieser Art Klaggedichte in Bausch und Bogen auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache. Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk. Man verzichte darauf, aus zweiter Hand zu dichten: nämlich Worte zu übernehmen (von Sätzen ganz zu schweigen), die man nicht funkelnagelneu für den eigenen Gebrauch erfunden habe. Man wolle den poetischen Effekt nicht länger durch Maßnahmen erzielen, die schließlich nichts weiter seien als reflektierte Eingebungen oder Arrangements verstohlen angebotener Geist-, nein Bildreichigkeiten.

Ball, Hugo. In: Merte, Angela (1994): Dada total: Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. Stuttgart: Reclam, S. 29.

 

4 _

Dada – dies ist ein Wort, das die Ideen hetzt; jeder Bürger ist ein kleiner Dramaturg, erfindet verschiedene Auffassungen, anstatt die der Qualität seiner Intelligenz entsprechenden Personen zu platzieren, Schmetterlingspuppen auf Stühlen, sucht er […] Ursachen und Ziele, um seine Intrige zu zementieren: Geschichte, die von selbst spricht und sich definiert. Jeder Zuschauer ist ein Intrigant, wenn er ein Wort zu erklären sucht […].

Tzara, Tristan. In: Merte, Angela (1994): Dada total: Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. Stuttgart: Reclam, S. 36.

 

5 _

Dada bedeutet nichts

Wenn man es für nichtig hält und seine Zeit mit einem Wort verlieren will, das nichts bedeutet … Der erste Gedanke, der sich in diesen Köpfen wälzt, ist bakteriologischer Art: seinen etymologischen, historischen, wenigstens aber seinen psychologischen Ursprung finden. Aus den Zeitungen erfährt man, dass die Kruneger den Schwanz einer heiligen Kuh: Dada nennen. Der Würfel und die Mutter in einer gewissen Gegend Italiens: Dada. Ein Holzpferd, die Amme, doppelte Bejahung im Russischen und Rumänischen: Dada. Weise Journalisten sehen in ihm eine Kunst für die Säuglinge, andere Heilige-tägliche-Jesus-lässt-die Kindlein-zu-sich-kommen, die Rückkehr zu einem trockenen und lärmenden, lärmenden und eintönigen Primitivismus. Man konstruiert nicht auf ein Wort die Empfindsamkeit; jede Konstruktion läuft auf langweilige Vollendung hinaus, stagnierende Idee eines vergoldeten Sumpfes, relatives menschliches Produkt. Das Kunstwerk soll nicht das Schöne an sich sein, denn es ist tot; weder heiter noch traurig, weder hell noch dunkel, soll es die Individualitäten erfreuen oder misshandeln, indem es ihnen die Kuchen heiliger Aureolen oder die Schweisse eines quer durch die Atmosphären gesteilten Laufes aufwartet. Ein Kunstwerk ist niemals schön, auf Beschluss schön, objektiv für alle. Folglich ist Kritik unnütz, sie existiert lediglich subjektiv für den einzelnen ohne den geringsten Charakter von Allgemeingültigkeit. Glaubt man die der ganzen Menschheit gemeinsame psychische Basis gefunden zu haben?

Tzara, Tristan. In: Merte, Angela (1994): Dada total: Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. Stuttgart: Reclam, S. 36-37.

 

6 _

Ordnung-Unordnung, Ich-Nicht-Ich, Bejahung-Verneinung: höchste Ausstrahlungen absoluter Kunst. Absolut in Reinheit geordnetes Chaos ewig in Sekundenkugel ohne Dauer, ohne Atem, ohne Licht, ohne Kontrolle. //

Ich liebe ein altes Werk um seiner Neuheit willen. Es ist nur der Kontrast, der uns an die Vergangenheit bindet.

Tzara, Tristan. In: Merte, Angela (1994): Dada total: Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. Stuttgart: Reclam, S. 39.

 

7 _

Dada ist das Wahrzeichen der Abstraktion; die Reklame und die Geschäfte sind auch poetische Elemente.

Tzara, Tristan. In: Merte, Angela (1994): Dada total: Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. Stuttgart: Reclam, S. 40.

 

8 _

dadaistischer Ekel

jedes erzeugnis des ekels, das negation der familie zu werden vermag, ist dada; protest mit den fäusten, seines ganzen wesens in zerstörungshandlung: dada; kenntnis alles mittel, die bisher das schamhafte geschlecht des bequemen kompromisses und der höflichkeit verwarf: dada; vernichtung der logik, tanz der ohnmächtigkeit der schöpfung: dada; jeder hierarchie und sozialen formel von unseren dienern eingesetzt: dada; jeder gegenstand, alle gegenstände, die gefühle und dunkelheiten; die erscheinungen und der genaue stoss paralleler linien sind kampfesmittel: dada, vernichtung des gedächtnisses: dada; vernichtung der archäologie: dada; vernichtung der propheten: dada; vernichtung der zukunft: dada; absoluter indiskutabler glauben an jeden gott, den spontane unmittelbarkeit erzeugt.

Tzara, Tristan. In: Merte, Angela (1994): Dada total: Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. Stuttgart: Reclam, S. 45.

 

9 _

Dada ist eine neue Kunstrichtung. Das kann man daran erkennen, dass bisher niemand etwas davon wusste und morgen ganz Zürich davon reden wird. Dada stammt aus dem Lexikon. Es ist furchtbar einfach. Im Französischen bedeutet es Steckenpferd. Im Deutschen: Addio, steigt mir bitte den Rücken runter, auf Wiedersehen ein ander Mal! Im Rumänischen: «Ja wahrhaftig, Sie haben Recht, so ist es. Jawohl, wirklich. Machen wir.» Und so weiter. Ein internationales Wort. Nur ein Wort und das Wort als Bewegung. Es ist einfach furchtbar. Wenn man eine Kunstrichtung daraus macht, muss das bedeuten, man will Komplikationen wegnehmen. Dada Psychologie, Dada Literatur, Dada Bourgeoisie und ihr, verehrteste Dichter, die ihr immer mit Worten, nie aber das Wort selber gedichtet habt. Dada Weltkrieg und kein Ende, Dada Revolution und kein Anfang. Dada ihr Freunde und Auchdichter, allerwerteste Evangelisten. Dada Tzara, Dada Huelsenbeck, Dada m’dada, Dada mhm’ dada, Dada Hue, Dada Tza.

Wie erlangt man die ewige Seligkeit? Indem man Dada sagt. Wie wird man berühmt? Indem man Dada sagt. Mit edlem Gestus und mit feinem Anstand. Bis zum Irrsinn, bis zur Bewusstlosigkeit. Wie kann man alles Aalige und Journalige, alles Nette und Adrette, alles Vermoralisierte, Vertierte, Gezierte abtun? Indem man Dada sagt. Dada ist die Weltseele, Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt.

Ball, Hugo. In: Puff-Trojan/Compagnon (Hrsg.) (2016): Dada-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Contradiction. Zürich: Manesse Verlag, S. 125.

 

10 _

Wer ist Dadaist?

Ein Dadaist ist ein Mensch, der das Leben in allen seinen unübersehbaren Gestalten liebt und der weiß und sagt: Nicht allein hier, sondern auch da, da, da ist das Leben! Also beherrscht auch der wahrhafte Dadaist das ganze Register der menschlichen Lebensäußerungen, angefangen von der grotesken Selbstpersiflage bis zum heiligsten Wort des Gottesdienstes auf der reif gewordenen, allen Menschen gehörenden Kugel Erde.

Bader, Johannes. In: Puff-Trojan/Compagnon (Hrsg.) (2016): Dada-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Contradiction. Zürich: Manesse Verlag, S. 131.

 

11 _

Dada ist ein Wort, das in allen Sprachen existiert – es drückt nichts weiter aus als die Internationalität der Bewegung, mit dem kindlichen Stammeln, auf das man es zurückführen wollte, hat es nichts zu tun. Was ist nun der Dadaismus, für den ich heute Abend hier eintreten will?

Huelsenbeck, Richard. In: Puff-Trojan/Compagnon (Hrsg.) (2016): Dada-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Contradiction. Zürich: Manesse Verlag, S. 130.

 

12 _

DADA ist wie Euere Hoffnungen: nichts

wie Euer Paradies: nichts

wie Euere Idole: nichts

wie Euere politischen Führer: nichts

wie Euere Helden: nichts

wie Euere Künstler: nichts

wie Euere Religionen: nichts

Picabia, Francis. In: Puff-Trojan/Compagnon (Hrsg.) (2016): Dada-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Contradiction. Zürich: Manesse Verlag, S. 140.

 

13 _

Alles in unserer Zeit ist Dada, nur die Dadaisten nicht. Wenn die Dadaisten Dadaisten wären, dann wären die Dadaisten keine Dadaisten.

van Doesburg, Theo. In: Puff-Trojan/Compagnon (Hrsg.) (2016): Dada-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Contradiction. Zürich: Manesse Verlag, S. 143.

 

14 _

Ich erkläre, dass Tristan Tzara das Wort DADA am 8. Februar 1916 um 6 Uhr abends eingefallen ist; ich war mit meinen 12 Kindern dabei, als Tzara zum ersten Mal dieses Wort aussprach, das in uns eine berechtigte Begeisterung auslöste. Dies ereignete sich im Café Terrasse zu Zürich, und ich trug gerade eine Brioche im linken Nasenloch. Ich bin überzeugt, dass dieses Wort gänzlich unbedeutend ist und dass sich nur Schwachsinnige und spanische Professoren für nähere Angaben interessieren. Was uns interessiert, ist die dadaistische Geisteshaltung, und wir waren alle schon dada, bevor es dada gab.

Arp, Hans. In: Puff-Trojan/Compagnon (Hrsg.) (2016): Dada-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Contradiction. Zürich: Manesse Verlag, S. 144.

 

15 _

Ich bin der grosse Derdiedas

Das rigorose Regiment

Der Ozonstengel prima Qua

Der anonyme Einprozent.

 

Das P.P. Tit. und auch die Po

Posaune ohne Mund und Loch

Das grosse Herkulesgeschirr

Der linke Fuss vom rechten Koch.

 

Ich bin der lange Lebenslang

Der zwölfte Sinn im Eierstock

Der insgesamt Augustin

Im lichten Cellulosenrock.

 

Der aufgeklappte Ohnegleich

Der garantierte Herr Herrje

Die edelweisse Wohlgeburt

Der vielgenannte Domine.

 

Arp, Hans. In: Merte, Angela (1994): Dada total: Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. Stuttgart: Reclam, S. 59.

 

16 _

Ich schreibe ein Manifest und will nichts, trotzdem sage ich gewisse Dinge und bin aus Prinzip gegen Manifeste, wie ich auch gegen die Prinzipien bin – […]. Ich schreibe dieses Manifest, um zu zeigen, daß man mit einem einzigen frischen Sprung entgegengesetzte Handlungen gleichzeitig begehen kann; ich bin gegen die Handlung; für den fortgesetzten Widerspruch, für die Bejahung und bin weder für noch gegen und erkläre nicht, denn ich hasse den gesunden Menschenverstand.

Tzara, Tristan. In: Merte, Angela (1994): Dada total: Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. Stuttgart: Reclam, S. 35-36.

 

17 _

So entstand Dada aus einem Bedürfnis von Unabhängigkeit, des Misstrauens gegen die Gemeinsamkeit. Die zu uns gehören, behalten ihre Freiheit. Wir anerkennen keine Theorie. Wir haben genug von den kubistischen und  futuristischen Akademien: Laboratorien für normale Gedanken. Macht man Kunst, um Geld zu verdienen und die netten Bürger zu streicheln? Die Reime klingen von der Assonanz der Münzen, und die Inflexion gleitet die Linie des Bauchprofils entlang. Alle Künstlergruppen haben, auf verschiedenen Kometen reitend, auf dieser Bank geendet.

Tzara, Tristan. In: Merte, Angela (1994): Dada total: Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. Stuttgart: Reclam, S. 37-38.

 

18 _

Aber so das Leben ein schlechter Spaß, ohne Ziel und Anfangsspur ist, und weil wir glauben uns sauber, als gewachsene Chrysanthemen aus der Affäre ziehen zu müssen, haben wir als einzige Verständigungsbasis: die Kunst proklamiert. Sie hat nicht die Bedeutung, die wir, Raufbolde des Geistes, ihr seit Jahrhunderten ansingen. Die Kunst betrübt niemanden und die sich um sie bemühen wissen, erhalten Liebkosungen und die schöne Gelegenheit, das Land ihrer Konversation zu bevölkern. Kunst ist Privatsache, der Künstler macht sie für sich; ein verständliches Werk ist Journalistenprodukt und weil es mir in diesem Augenblick gefällt, das Monstrum mit Ölfarbe zu mischen: Papiertube, Metallersatz, die man drückt und automatisch Hass, Feigheit, Gemeinheit ausspritzt.

Tzara, Tristan. In: Merte, Angela (1994): Dada total: Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. Stuttgart: Reclam, S. 42.

 

19 _

da-da war da-da be-vor da-da da-da war.

Eigenkreation

 

20 _

Edle und respektierte Bürger Zürichs, Studenten, Handwerker, Arbeiter, Vagabunden, Ziellose aller Länder, vereinigt euch. Im Namen des Cabaret Voltaire und meines Freundes Hugo Ball, dem Gründer und Leiter dieses hochgelehrten Institutes, habe ich heute Abend eine Erklärung abzugeben, die Sie erschüttern wird. Ich hoffe, daß Ihnen kein körperliches Unheil widerfahren wird, aber was wir Ihnen jetzt zu sagen haben, wird Sie wie eine Kugel treffen. Wir haben beschlossen, unsere mannigfaltigen Aktivitäten unter dem Namen Dada zusammenzufassen.

Wir fanden Dada, wir sind Dada, und wir haben Dada. Dada wurde in einem Lexikon gefunden, es bedeutet nichts. Dies ist das bedeutende Nichts, an dem nichts etwas bedeutet. Wir wollen die Welt mit Nichts ändern, wir wollen die Dichtung und die Malerei mit Nichts ändern und wir wollen den Krieg mit Nichts zu Ende bringen. Wir stehen hier ohne Absicht, wir haben nicht mal die Absicht, Sie zu unterhalten oder zu amüsieren. Obwohl dies alles so ist, wie es ist, indem es nämlich nichts ist, brauchen wir dennoch nicht als Feinde zu enden. Im Augenblick, wo Sie unter Überwindung Ihrer bürgerlichen Widerstände mit uns Dada auf ihre Fahne schreiben, sind wir wieder einig und die besten Freunde. Nehmen Sie bitte Dada von uns als Geschenk an, denn wer es nicht annimmt, ist verloren. Dada ist die beste Medizin und verhilft zu einer glücklichen Ehe. Ihre Kindeskinder werden es Ihnen danken. Ich verabschiede mich nun mit einem Dadagruß und einer Dadaverbeugung. Es lebe Dada. Dada, Dada, Dada.

Huelsenbeck, Richard. In: Merte, Angela (1994): Dada total: Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder. Stuttgart: Reclam, S. 33.