Beitrag von Sally Schonfeldt, Alumna Bachelor Medien & Kunst, Vertiefung Bildende Kunst Übersetzung aus dem Englischen von Vera Ryser

Ein Ort wird zu einem Schauplatz, wenn dort etwas geschehen ist, etwas anwesend oder eingerichtet war. Ein solcher Ort kann gleichzeitig eine spürbar physische und eine ephemere sozio-historische Präsenz aufweisen. Spuren vergangener Ereignisse, die an diesem Ort stattgefunden haben, bestehen fort, durchtränken ihn und sind in ihn als Erinnerungen eingeschrieben Werden diese Erinnerungen aufgebrochen, so kommen Bedeutungsschichten zum Vorschein, die zuvor verborgen waren, einer Archäologie der Erinnerungen gleich. Städte bestehen aus vielen solchen Orten längst vergessener oder durch die fortschreitende Zeit verzerrter Geschichten. Geschichten, die manchmal unbehagliche Erinnerungen oder dunkle Geheimnisse der Vergangenheit verstecken; die – in das Bewusstsein der Gegenwart gebracht – eine beunruhigende Störung provozieren können. Eine Störung im Verständnis der eigenen Gesellschaft, eine Störung der eigenen Unschuld. Eine solche Störung kann alte Wunden offenlegen, die von der gegenwärtigen Gesellschaft zuerst anerkannt werden müssen, damit neue Realitäten konstruiert und ein neues Verständnis der Vergangenheit erlangt werden kann, welches wiederum unsere Gegenwart prägt.

Eine Stadt wie Zürich in einem Land wie die Schweiz, das zwar nie eigene Kolonien besass, jedoch stark mit dem Kolonialimperialismus verstrickt war, hat viele dunkle und vergessene Geschichten. Diese kolonialen Geschichten sind geprägt von Rassismus und einer angenommenen Überlegenheit über Menschen, die als «anders» oder «exotisch» galten. Und doch blieben sie bis hin zur jüngsten Zeit unbeachtet. Die Geschichten sind an Orten in der ganzen Stadt eingeschlossen und erwarten ihre Wiederentdeckung, um die Vergangenheit neu zu verhandeln und um neue Geschichten zu schaffen, in denen die Vergangenheit befreit und konfrontiert werden kann.

Die Geschichte der Völkerschauen oder des Menschenzoos ist auch Teil der Zürcher Geschichte. Das kulturelle Phänomen – bekannt als Völkerschauen, Menschenzoos oder ethnische Schauen – stellte Menschen aussereuropäischer Ethnien, ähnlich wie Tiere in einem Zoo, aus und entwickelte sich im Europa des 19. Jahrhunderts parallel zu den kolonialen Eroberungen. Menschen wurden allein aufgrund ihres äusserlichen Andersseins und ihrer Differenz zu den vermeintlich zivilisierten Europäer_innen zur Unterhaltung vorgeführt. Zu Beginn wurden einzelne, als besonders «exotisch» geltende Individuen in Gefangenschaft gehalten und öffentlich ausgestellt. Aber das Phänomen entwickelte sich rasch hin zur Ausstellung ganzer Dörfer, und ganze Menschengruppen wurden umgesiedelt und an europäischen Schauplätzen ausgestellt.

Die Entwicklung dieser Völkerschauen fand an der Schnittstelle von Kolonialgeschichte, der Entwicklung der Sozialwissenschaften wie beispielsweise der Ethnologie, dem Aufkommen von Rassen- und Rassentrennungstheorien und der Geschichte der Unterhaltungsindustrie und internationalen Messen statt. Es entwickelten sich drei Hauptformen von Völkerschauen: Ausstellungen an Kolonial- oder Weltmessen, zur Unterhaltung als Teil eines Monstrositäten-Kabinetts und Ausstellungen in einem anthropozoologischen Rahmen. Im Kontext dieser letzten Form fanden Menschenzoos ab 1874 in Vergnügungsparks und Tiergärten in ganz Europa statt. An diesen öffentlichen Spektakeln importierter Kulturen wurden Menschen mit aussereuropäischen Wurzeln in ihren als «natürlich» bezeichneten Umgebungen und oftmals neben Exponaten von Wildtieren zur Schau gestellt. Die Ausstellungen wurden so gestaltet, dass verschiedene Szenen des vermeintlich täglichen Lebens dieser Menschen beobachtet werden konnten. Völkerschauen wurden in vielen europäischen und nordamerikanischen Städten zu einem Massenphänomen, welches bis tief ins 20. Jahrhundert fortbestand.

Die Darstellung von Menschen «anderer» ethnischer Herkunft und ihre Positionierung in einer eurozentristischen Weltanschauung verstärkte das gewünschte Bild der weissen Überlegenheit. Diese Spektakel der Differenz stellten Männer, Frauen und Kinder anderer Kulturen als minderwertig und andersartig dar. Damit schufen sie eine klare Distanz zwischen ihnen und den Besucher_innen und führten zu einer erfundenen Trennung von zwei verschiedenen Formen von Menschsein. Völkerschauen verstärkten die selbstverständliche Annahme einer europäischen Überlegenheit durch den Vergleich eines fortschrittlichen kulturellen und technologischen Entwicklungsstandes mit der angeblichen Primitivität anderer Kulturen. Dies war eine zutiefst koloniale Anmassung basierend auf dem Vergleich der «Zivilisierten» mit dem «Natürlichen». Mit der Etablierung dieser Unterscheidung spielten Völkerschauen bei der Konstruktion des Bildes der «Wilden» eine wichtige Rolle. Denn diese Schauen boten vielen Europäer_innen zum ersten Mal die Möglichkeit, jene «exotischen» Völker lebend zu sehen, von denen viele kolonialisiert waren oder bald kolonialisiert werden sollten. Der Akt des Ausstellens von Menschen als «Wilde» diente dazu, ihren minderwertigen Status zu beweisen und legte den moralischen Grundstein für die Kolonialisierung. Die Konstruktion dieser Unterschiede lieferte den Rückhalt für jene rassistischen Hierarchien, welche tief in das koloniale Programm eingeschrieben sind.

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Stills aus: «Plattenstrasse 10» (2014) von Sally Schönfeldt

Obwohl die Schweiz keine eigenen Kolonien besass, nahm sie an diesen kolonialen Ausstellungen teil. Allein in Zürich wurden zwischen 1872 und 1960 mehr als sechzig Völkerschauen veranstaltet. Die meisten davon fanden im 20. Jahrhundert statt, obwohl der Höhepunkt der Völkerschauen bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte.

Viele Orte in der ganzen Stadt Zürich tragen historische Erinnerungen an diese dunkle Vergangenheit in sich. Mein Essayfilm Plattenstrasse 10 legt die Geschichte eines solchen spezifischen Ortes in einer einenhalbstündigen Lecture Performance frei, welche vor Ort und in Echtzeit performt wurde. Der Film zeigt drei verschiedene Perspektiven auf den Ort selbst, während er städtische Mythen, Archivrecherchen und historische Gegebenheiten erzählerisch miteinander verwebt und die Sedimentschichten dieser Geschichte an ihrem spezifischen Ort zu enthüllen beginnt. Auf dem Gelände der Plattenstrasse 10 steht heute ein renommiertes Hochhaus der Nachkriegsmoderne, welches in den 1950er Jahren gebaut wurde. Die historischen Gebäude, die früher an diesem Ort standen, wurden abgerissen, um Platz für die Konstruktion des Hochhauses zu machen, obwohl sie einen vernachlässigten Teil der Schweizer Geschichte in sich bewahrten. Denn an diesem Ort fanden im späten 19. Jahrhundert einige der ersten Völkerschauen der Stadt Zürich statt. Der Film erzählt diese Gegebenheit mit einem besonderen Fokus auf die Geschichte einer Gruppe von zehn Kawesqar_innen – Angehörigen einer Volksgruppe aus dem südlichsten chilenischen Patagonien –, welche entführt und nach Europa verschifft, und eben auch in Zürich an der Plattenstrasse 10 ausgestellt wurden. Der Film entwirrt die Geschichte dieser vergessenen Realität, legt sie offen und fragt uns danach, welche Bedeutung wir dieser unbekannten Geschichte in der Gegenwart geben wollen.

Literatur:

  • Pascal Blanchard et al: MenschenZoos: Schaufenster der Unmenschlichkeit. Völkerschauen in Deutschland, Österreich, Schweiz, UK, Frankreich, Spanien, Italien, Japan, USA… Hamburg, 2012.
  • Pascal Blanchard et al: Human zoos: the invention of the savage. Arles, 2011.
  • Rea Brändle: Wildfremd, hautnah: Zürcher Völkerschauen und ihre Schauplätze 1835-1964. Zürich, 1996
  • James Meyer: «The Functional Site; or, the Transformation of Site-Specificity» in: Space, Site, Intervention: Situating Installation Art, ed. Erika Suderberg. Minneapolis, 1996.