Beitrag von Caroline Palla, Absolventin Bachelor Medien & Kunst, Vertiefung Theorie, DKM
Wir alle nutzen Wikipedia. Und theoretisch können wir alle daran mitschreiben. Doch zwischen den Autor_innen der meistbenutzten Online-Enzyklopädie klafft eine Geschlechterlücke, die niemand so richtig erklären kann. Aus einer 2011 durchgeführten Verfasser_innen-Studie der Wikimedia-Stiftung geht hervor, dass der Anteil der Autorinnen bei rund 10% stagniert. Wikipedia gehört zu den wichtigsten Quellen von Wissen. Dass dieses Wissen immer männlicher wird, zeigt sich an den Inhalten, an der Setzung der Schwerpunkte, aber auch in der Art, wie diese Schwerpunkte ausgeführt werden.
Um der klaffenden Geschlechterlücke etwas entgegenzuhalten, organisierte das in New York City ansässige Kunst- und Technologiezentrum Eyebeam am 1. Februar 2014 einen Wikipedia Edit-A-Thon zum Themenbereich zeitgenössische Kunst und Feminismus. Edit-A-Thons, auch Meetups genannt, sind regelmässig oder spontan stattfindende Treffen von Wikipedianer_innen, deren Aktivitäten anschliessend auf speziellen Wikipedia-Meetup-Seiten protokolliert werden. Dabei wird erfasst, welche Inhalte bearbeitet werden, welche Artikel neu verfasst werden und wer am Event beteiligt war. Parallel zum Eyebeam-Anlass fanden am selben Tag über dreissig Satellitenveranstaltungen im englischsprachigen Raum diesseits und jenseits des Atlantiks statt.
Angesteckt von dieser Edit-A-Thon-Welle machte ich mich an die Planung eines Wikipedia Edit-A-Thons Kunst + Feminismus in Zürich. Mit Stefan Wagner, einem der Betreiber des Zürcher Corner College, war bald ein Komplize gefunden. Ein Dutzend Frauen und Männer folgten unserem Aufruf, die Sichtbarkeit von bedeutenden Künstlerinnen und den Anteil der Autorinnen auf Wikipedia zu erhöhen. Drei Mitglieder des Fördervereins Wikimedia Schweiz führten uns in die technischen Einzelheiten ein. Wir erlernten die Grundlagen von Wikitext (einer Wikipedia-spezifischen Alternative zu HTML) und des Mentorenprogramms, wir wurden darin geschult, was zu tun ist, wenn man in einen «Edit War» verwickelt wird, wir machten uns mit den Relevanzkriterien vertraut, erstellten unsere Benutzerprofile und legten los.
Wikipedia wurde 2001 gegründet. Heute ist sie das wichtigste von zwölf Projekten der Wikimedia-Stiftung (andere bedeutende Wikimedia-Projekte sind Wikibooks oder Wikinews). Wikipedia ist eine Enzyklopädie, die von Laien gestaltet wird und die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie auch nicht-akademische Inhalte einbezieht. Die Tatsache, dass ein kollaboratives Projekt, das für alle offen ist, derart asymmetrisch zu männlichen Autoren tendiert, ist auf Anhieb überraschend. Ganz im Gegensatz zur Geschäftswelt gibt es keinen von Männern dominierten Vorstand, der Autoren gegenüber Autorinnen den Vorrang geben würde. Wikipedia ist kein Software-Projekt, sondern eher eine Schreibwerkstatt – ein Cadavre Exquis oder ein Spiel, bei dem jeder Spieler zu einem grösseren Werk beiträgt. Die Ur-Mitarbeiter_innen von Wikipedia haben jedoch vieles mit der eingefleischten Hacker-Crowd gemeinsam, sagt Joseph Reagle, ein Mitglied des Berkman Center for Internet and Society in Harvard, in der New York Times. «Dazu gehört eine Ideologie, die sich dagegen sträubt, Regeln zu verhängen oder sich Ziele wie Diversität zu setzen, und eine Kultur, die Frauen abschreckt.» (Cohen, 2011).
Die heutige Wikipedia-Community speist sich aus einem Kern von mehrheitlich männlichen Wikipedianer_innen erster Stunde, der über die Jahre organisch auf mehrere hunderttausend Autor_innen angewachsen ist. Die ablehnende Haltung gegenüber Regelungen bleibt bestehen. Die Einführung einer gendergerechten Sprachregelung wird auf Wikipedia schon seit zehn Jahren lebhaft diskutiert. Die meisten Artikel verwenden das generische Maskulinum («der Künstler») bzw. das generische Femininum («die Koryphäe»). Man findet aber auch Doppelnennungen («Künstlerinnen und Künstler»), geschlechtsneutrale Formulierungen («Kunstschaffende»), die Verwendung des grossen Binnen-I’s («KünstlerIn»), eines Schrägstrichs («Künstler/in»), Unterstrichs («Künstler_in»), und eines in die feminine Form gewandelten generischen Maskulinums («Künstlerin»). Die gendergerechten Schreibweisen sind vielen Wikipedianer_innen ein Dorn im Auge, da sie von der deutschen Rechtschreibung nicht akzeptiert sind.
Ein Meinungsbild für die Einführung des generischen Maskulinums wurde kürzlich abgelehnt. Eine Vielzahl von Formulierungen wird von einer Mehrheit also nicht nur geduldet, sondern auch begrüsst. Die Festlegung des generischen Maskulinums im Fliesstext und ein Verbot von alternativen Formulierungen könnte sich negativ auf die Beteiligung von Autorinnen auswirken. Und genau dies will Sue Gardner, die bis Mai 2014 amtierende Geschäftsführerin der Wikimedia-Stiftung, vermeiden. Sie strebt bis ins Jahr 2015 einen Autorinnen-Anteil von 25% an. Gezielte Massnahmen, Autorinnen zu rekrutieren oder gar eine Frauenquote einzuführen, lehnt sie jedoch ab. Die Gender-Thematik sei für viele Wikipedianer_innen ein heisses Eisen, und sie wolle diese starken Gefühle nicht triggern. Auch Kat Walsh, die Mitglied des Wikimedia Board ist, glaubt, dass indirekte, «weiche» Initiativen in der (vorwiegend aus Männern) bestehenden Wikipedia-Community bedeutend weniger Unbehagen auslösen als Quoten. Leider haben diese «weichen» Initiativen bislang wenig Wirkung gezeigt. Edit-A-Thons, die sich auf frauenspezifische Themen konzentrieren, bringen pro Veranstaltung eine Handvoll bis höchstens ein paar Dutzend neue Autorinnen hervor. Diese stehen einer Heerschar meist junger Autoren gegenüber, die zum Beispiel Artikel über ihre Lieblingsspiele und deren Figuren verfassen.
Jane Margolis, Ko-Autorin eines Buches über Sexismus in den Computerwissenschaften, Unlocking the Clubhouse (2002), behauptet, dass Wikipedia dieselben Probleme erlebt wie die Offline-Welt, wo Frauen weniger bereit sind, ihre Meinung öffentlich zu vertreten. «In fast jedem Bereich: Wer sind die Behörden, die Politiker, die Leserbrief-Autoren?», fragt Margolis, Forschungsleiterin am Institute for Democracy, Education and Access an der University of California, Los Angeles (Cohen, 2011). Auch das Projekt von OpEd, einer in New York ansässigen Organisation, die die Geschlechterverteilung von Mitarbeiter_innen an «public thought-leadership forums» beobachtet, stuft ein Teilnehmer_innenverhältnis von 85% Männern gegenüber 15% Frauen als üblich ein, ob es sich nun um Kongressmitglieder oder um Verfasser_innen von Leserbriefen für die New York Times oder Washington Post handle. Gemäss Catherine Orenstein, der Gründerin und Direktorin des OpEd-Projekts, fehle es vielen Frauen an Selbstvertrauen, ihre Ansichten einzubringen. «Wenn Du zu einer Minderheit gehörst, beginnst Du, an Deinen eigenen Kompetenzen zu zweifeln», sagt sie. Ihre Gruppe ermuntere Frauen dazu, sich auszudrücken, indem sie diesen rate, den Fokus weg von sich selber – ‹weiss ich genug, bin ich am angeben?› – nach aussen hin zu lenken und sich auf den Wert ihres Wissens zu besinnen» (Cohen, 2011).
Um dieses weibliche Selbstverständnis zu verändern, brauche es griffige Regelungen, meint Helena Trachsel, Leiterin der Fachstelle für Gleichstellung von Frau und Mann des Kantons Zürich. Trachsel bezeichnet sich selbst als Quotengegnerin (Telefongespräch vom 9. September 2014). Das Beispiel Norwegen habe gezeigt, dass es immer dieselben Quotenfrauen sind, welche die – notabene meist nur «harmlosen» – Verwaltungsratsfunktionen besetzen. Die Quotenregelung in Norwegen habe nur eine Spitze gutverdienender Frauen, die sogenannten Goldröcke, hervorgebracht. Sie habe keine Breiten- und Tiefenwirkung.
Frauen seien im allgemeinen ängstlicher, sorgfältiger und pflichtbewusster als Männer. Sie würden eher Rücksicht auf Andere nehmen, insbesondere auf die eigene Familie. Fünf von rund acht Milliarden unbezahlten Arbeitsstunden in der Schweiz würden von Frauen geleistet. Meistens handle es sich dabei um unbezahlte Arbeit im Innenbereich (Haushaltung, Pflege kranker Familienangehöriger, usw.). Männer wiederum engagieren sich gerne in Vereinen und Clubs, wo sie für alle sichtbare Freiwilligenarbeit leisten.
Das Rollenverständnis bei Kindern werde schon sehr früh gebildet. Deshalb schlägt Trachsel vor, ab der Kindergartenstufe eine Pflichtstunde im Rahmen des Fachs Mensch und Umwelt einzuführen, die sich mit der Gestaltung des eigenen Lebens befasst. Die Selbstverständlichkeit, dass sich Beruf und Kinder miteinander vereinbaren liessen, habe sich noch nicht etabliert. Um gesellschaftliche Veränderungen einzuleiten, brauche es aber diesen ersten Schritt. Es brauche Vorbilder und Abgrenzung («so nicht!») von frühester Kindheit an.
Auf Wikipedia habe sich bis jetzt der Darwinismus durchgesetzt, sagt Trachsel. Um das ungleiche Geschlechterverhältnis zugunsten der Autorinnen zu verändern, brauche es klare Zielvereinbarungen. Wie viel Diversität wollen wir? Ein Bekenntnis zu mehr Diversität (auch kultureller und altersmässiger Diversität) könne durchaus positiv formuliert werden, um so die angestammte Wikipedia-Gemeinde nicht zu vergraulen.
Es braucht Zeit, damit sich die Dinge nachhaltig verändern können. Stösst eine Benutzerin der Enzyklopädie ab und zu auf einen Artikel, der auch das generische Maskulinum systematisch in seiner femininen Formulierung verwendet, so setzt dies zumindest einen Denkprozess in Bewegung. Ausbildungsinstitutionen wie die Universität Leipzig, die in ihrer Grundordnung seit 2013 nur noch auf weibliche Bezeichnungen setzt, sind wichtige Experimentierfelder. Wikipedia kann helfen, dass diese für die Allgemeinheit noch unüblichen Schreibweisen weiter verbreitet werden.
Literatur:
- Noam Cohen: Define Gender Gap? Look Up Wikipedia’s Contributor List. In: The New York Times, 31. Januar 2011, S. A1.
- Jane Margolis, Allan Fisher: Unlocking the Clubhouse, Cambridge, Mass. 2002.
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