„Willkommen im Affechaschte“
Vor etwa zwei Jahren hatte ich vorübergehend einen Arbeitsplatz an einem Fenster, das auf eine Dorfstrasse in Schottland hinausging. Die Passanten und mich trennte vielleicht ein Meter, eher weniger. Schon am ersten Tag fiel mir auf, dass die Vorübergehenden nicht nur keinen Blickkontakt mit mir aufnahmen, sie sahen auch nicht in mein Fenster. Sie drehten nicht einmal den Kopf. Das erschien mir fast unhöflich, auf jeden Fall aber ein Zeichen äusserster Selbstbeherrschung.
Ich hatte natürlich bei meinen Spaziergängen durchs Dorf immer in alle Fenster geschaut, es waren schliesslich keine Vorhänge daran und sie gingen zur Strasse hinaus. Wie soll man da nicht hinsehen, und wie soll man sonst etwas über die Schotten lernen?
Mangels Gesprächigkeit und Gelegenheit redeten die Schotten nie mit mir, aber in Irland ist das anders, also erzählte ich kurze Zeit später einigen Iren davon. Die Iren reagierten zuerst verständnislos, dann entsetzt. Es erscheine uns Deutschen also wirklich normal, anderen Leuten in die Fenster zu schauen? Nur weil es geht?
Bis dahin wusste ich nur, dass man in den Niederlanden keine Vorhänge an den – oft ziemlich grossen – Fenstern hat. Über dieses Phänomen ist schon viel geschrieben worden, meist garniert mit der Erklärung, das liege an der calvinistischen Religion und die vorhanglosen Fenster drückten aus, dass die Bewohner nichts vor Gott oder den Nachbarn zu verstecken hätten. Es ist mir nicht gelungen, eine seriöse Quelle für diesen Zusammenhang zu finden. Eventuell existiert er nicht, manchmal haben kulturelle Unterschiede ja gar keine besonderen Gründe.
Erst jetzt wurde mir jedenfalls klar, dass zu so einer Vorhanglosigkeit immer zwei Parteien gehören: Leute ohne Vorhänge, und Leute, die beim Vorübergehen an Fenstern stur geradeaus schauen.
Natürlich starre ich im Toni-Areal hemmungslos in alle Fenster, schliesslich werde ich dafür bezahlt. Aber ich könnte mir vorstellen, dass die ungewohnte Transparenz – neben den von Katharina schon dokumentierten Abwehrstrategien – auf beiden Seiten Verhaltensänderungen bewirkt. Vermutlich wird man sich daran gewöhnen, dass man in vielen Räumen bei der Arbeit gesehen werden kann. Vielleicht werden aber auch die an den Fenstern Vorbeigehenden sich neue Hineinschaumanieren zulegen.
Ich habe ein Büro mit einem Arbeitsplatz direkt an einem Fenster ausfindig gemacht und werde den Ist-Zustand heute empirisch zu erfassen versuchen. Irgendjemand muss das dann in Zukunft wiederholen. Und dann wird man schon sehen, ob wir alle zu Niederländern werden.
michael
13. November 2014 — 9:01
etwas ähnliches habe ich auch selber erfahren dürfen. ich habe momentan noch ein zimmer in einer kreativen wg (oder atelier – wie auch immer). da habe ich auch ein grosses schaufenster nach draussen. was ich beobachtet habe ist, dass die leute eigentlich mehr unbehagen haben, reinzuschauen, als ich, der eigentlich ausgestellt, beobachtet ist. sie erschreckten meist im moment, in welchem ihnen auffiel, dass da ja jemand am computer sitzt und arbeitet. ein schräger moment.