Die Schweiz scheint ein Land zu sein, in dem man seinen Mitmenschen verhältnismässig weit über den Weg traut. Mein neues Handy lag tagelang im unverschlossenen Milchfach unter dem Briefkasten. Beim Baden am Oberen Letten ist mir bisher noch nichts abhandengekommen, obwohl ich relativ viel Hardware mit mir herumtrage und das Geschehen am Ufer gegen Abend ein wenig nach Drogenhandel aussieht. (Vielleicht missdeute ich das ja auch, und es finden sich einfach abends gesellige Menschen dort ein, die nur aus allgemeinem Forscherdrang ihre Umgebung sehr aufmerksam betrachten.) Begegnet man einander nachts auf unbeleuchteten Wegen, dann grüsst man sich höflich. Und das Toni-Areal ist 24 Stunden geöffnet. „Klar, geöffnet„, dachte ich anfangs, „man wird halt in die Eingangshalle hineindürfen und sonst nirgendwohin.“ Aber wie man hört, ist es anders, und um herauszufinden, wie anders, treffe ich mich um Mitternacht am Empfang mit Katharina und Simon, der sich auf meine Twitter-Ankündigung hin eingefunden hat:

  1. Die Frau am Empfang blickt nicht einmal auf. Besonders ungewöhnlich scheint unsere Ankunftszeit nicht zu sein.
  2. Ich schlage vor, zuerst in den Mehrspur-Klub zu gehen, der nämlich offen hat – am Nachmittag haben unsere Googleversuche noch ergeben, dass er erst am Mittwoch wieder öffnen wird. Leider schliesst er um Mitternacht dann aber doch.
  3. In der Eingangshalle piepst ein Alarm. Die Frau vom Empfang verlässt ihren Bau und fragt streng, ob wir das waren. Oder ob gerade jemand von oben heruntergekommen sei. Nur der da drüben, sage ich unbedacht, was dazu führt, dass der da drüben gründlich angekeift wird. Er verteidigt sich, aber wegen der Akustik der Eingangshalle versteht man kein Wort. Es ist eine sehr privatsphärenwahrende Eingangshalle. Vermutlich muss man immer sein Badge verwenden, wenn man einen Raum betreten will, und darf auf keinen Fall leichtfertig irgendeine Türklinke anfassen. Wir sind gewarnt.
  4. Seit gestern weiss ich, wo die Musik-Übungsräume im Keller sind, und die sehen wir uns als Erstes an. Gestern Nachmittag waren alle besetzt, jetzt ist niemand mehr da, und die Türen stehen offen. Ob man uns wohl identifizieren kann, wenn wir zum Beispiel einen Kontrabass mitgehen lassen? Gibt es hier überhaupt Überwachungskameras, oder sind die runden Dinger an der Decke nur Bewegungsmelder? Katharina spielt ein paar Anfangstakte von irgendwas auf einem Kawai-Flügel. Ich sage zu Simon, er sei doch sicher auch mit Klavierunterricht grossgezogen worden, denn die paar Takte klangen sehr gut, und ich hoffe, dass er vielleicht etwas Längeres spielen kann. Obwohl wir uns zum ersten Mal sehen, weiss ich einiges über ihn, zum Beispiel seine Lieblingsfarbe bei Sandschäufelchen, aber auch, dass sein Elternhaus praktisch aus Flügeln erbaut gewesen sein muss. Er leugnet zunächst, betritt ein paar Minuten später aber doch einen Übungsraum, „um die Schalldichtigkeit zu testen“, und spielt ein paar Anfangstakte von irgendwas Kompliziertem. War das jetzt einer von den Steinways?, frage ich. Ja, sagt Simon, aber ein ganz alter.
  5. Wir besichtigen einen Technikraum mit Notstromversorgung.
  6. Danach testen wir weiter oben im Gebäude, ob wir mit unseren Badges in ein Atelier hineindürfen, und wir dürfen. Im Atelier steht eine unerwartet grosse Menge Pfeffermühlen herum, manche pfeffergefüllt, andere leer und aufgeschraubt. Ob hier die Designer auf einen Markt vorbereitet werden, der von Designern vorwiegend das Entwerfen neuer Designerpfeffermühlen erwartet?
  7. In den Fluren erweisen sich die Bewegungsmelder als hilfreich und schalten überall, wo man hinkommt, das Licht ein. Man fühlt sich umsorgt. Ausserdem sieht es schön aus, wenn bei den grossen Neonröhrenflächen zuerst nur die orangen Punkte in der Dunkelheit aufglimmen.
  8. Menschen sind allerdings keine da. Insgesamt begegnen wir vielleicht fünf Personen. Katharina vermutet, dass das gegen Ende des Semesters anders sein wird, wenn alle in letzter Minute irgendwas fertigstellen müssen.
  9. In den Kammermusiksaal dürfen wir hinein, in den Orgelsaal und den grossen Konzertsaal aber nicht. Auch nicht ins Schaudepot oder in die Mensa.
  10. Man könnte problemlos hier übernachten, es gibt in vielen Räumen Sofas in der passenden Grösse. Nur wo die Duschen sind, wissen wir nicht. Es wird schon irgendwo welche geben, wie soll man sich sonst im Fall eines Atomkriegs dekontaminieren? Ich stelle mir vor, dass die Schweizer Bauvorschriften sich dieser Frage umfassend widmen. Aber bisher haben wir die Duschen noch nicht entdeckt.
  11. Auf der Dachterrasse ist es auch nachts und bei Regen ganz schön. Es wäre blogtechnisch natürlich vorteilhaft, wenn wir danach nicht wieder ins Gebäude gelassen würden und auf dem Dach übernachten müssten. Leider ist der Weg zurück kein Problem.
  12. Bei der ZHAW entdecken wir einen Raum, in dem der Fussboden mit einer Luftaufnahme von Zürich bedruckt ist. Katharina ist entsetzt. Aber stell dir vor, du hättest ein kleines Auto!, sage ich. Wenn ich noch mal nachts hier bin, bringe ich mir ein Auto mit. Eine Weile laufen wir auf Zürich herum und zeigen einander unsere Häuser. Stellenweise scheint die Luftaufnahme mit extra ausgeschnittenen Bildteilen überklebt worden zu sein, vielleicht Updates? Ein Patch!, sagt Simon.
  13. Ob man wohl ins Büro des Rektors hineinkann, um ihm Nachrichten auf Post-its in seine Aktenordner zu kleben? Ob er überhaupt Aktenordner hat? Aber das Grossraumbüro, in dem der Rektor arbeitet, hat ein ganz normales Türschloss und ist abgesperrt. Wenn Sicherheit wirklich wichtig ist, nimmt man wahrscheinlich doch lieber einen Schlüssel und keine Plastikkarte.
  14. Wir erforschen, ob die Bibliothek geöffnet ist. Aber an der Bibliothekstür versagen beide Badges. Katharina ist enttäuscht und sagt, in einer Hochschule müsse der Zugang zur Wissensbeschaffung gewährleistet sein. Ich sage, es sei vielleicht eher ein Anzeichen dafür, dass Bibliotheken in letzter Zeit mehr aus Gewohnheit gebaut würden und weniger, weil man ernsthaft damit rechnet, dass die Studierenden sie dringend zur Informationsbeschaffung benötigen*. Ausserdem brauche man eine teure Aufsichtsperson, sonst könne ja jeder nachts die Bücher stehlen.
    Wir könnten hier ein Klavier rausrollen!, sagt Katharina. Das kostet ja wohl mehr als ein Buch!
    Aber das Klavier passt gar nicht durch die Tür, sage ich. Man müsste erst die Beine abschrauben. Beim Buch nicht.
  15. Dann gehen wir schlafen.

* Privatglaube, der von Bibliothekaren in der Regel nicht geteilt wird. In zwei Wochen werde ich die Bibliothek erklärt bekommen und danach vielleicht mehr wissen.