Seit acht Jahren schreibe ich alle meine Texte in Google Docs, jetzt Google Drive. Meistens sind Coautoren dabei, aber auch, wenn ich allein schreibe, schalte ich den Text für ein oder zwei Mitleser frei, die kommentieren und verbessern können. Beim Schreiben in Google Docs, aber auch ähnlichen Editoren wie Etherpad (inzwischen Open Source) oder vermutlich auch Quip (ziemlich neu, ich hab es noch nicht ausprobiert) kann man jeden Buchstaben sehen, den die anderen Beteiligten hinschreiben und wieder löschen. Es ist ein bisschen gewöhnungsbedürftig, sich beim Arbeiten so über die Schulter schauen zu lassen. Wenn ich andere Menschen neu ins kollaborative Schreiben hineinlocke, dann äussern sie manchmal ein leichtes Unbehagen, oder man merkt ihrer Art der Google-Docs-Nutzung an, dass sie nicht gern Unfertiges vorzeigen. Sie schreiben oder bearbeiten dann alles offline und kopieren es nach langem Zureden in fertigem Zustand wieder dorthin, wo man es sehen kann.

Ich spüre dieses Unwohlsein bei Google Docs nicht mehr, aber ich erinnere mich noch gut an die Situation von 2011, als Google+ neu war und ich es etwa ein halbes Jahr lang ausdrücklich zum Posten unfertiger Ideen verwendete. Es stört mich nicht, wenn andere meine hingeschriebenen und wieder verworfenen Sätze sehen, umso weniger, als diese Anderen ja selten die Öffentlichkeit sind. Aber dass man mir beim Denken zusehen konnte, das fühlte sich sehr unschön an. Spätestens jetzt, dachte ich, müssen alle merken, mit was für halbgaren Ideen ich meinen Lebensunterhalt bestreite. Oder doch wenigstens, aus was für halbgaren Ideen ich hin und wieder in mühsamer Arbeit einen Text zusammenbastle, dem man die Dürftigkeit des Ausgangsmaterials nicht mehr ganz so deutlich anmerkt. Nach ein paar Monaten hatte ich mich daran gewöhnt, aber dann stellte sich heraus, dass drei soziale Netze – zumindest für mich – eins zu viel sind. Ich wendete mich von Google+ ab und behalte meine unfertigen Ideen jetzt wieder mehr für mich. Nicht aus Überzeugung, es hat sich halt so ergeben.

Mittelsteile These, das Toni-Areal betreffend: Ich glaube, die physische Transparenz vieler Arbeitsplätze im Haus funktioniert so ähnlich. Wenn man mit anderen zusammenarbeiten will, dann muss man sich in irgendeiner Weise für diese anderen zugänglich machen. Dass sie einen finden und wenigstens ungefähr sehen können, was man gerade tut, ist dabei hilfreich. Gleichzeitig verursacht auch diese Form der Arbeitstransparenz Eingewöhnungsschwierigkeiten, und vielleicht sogar aus ähnlichen Gründen: Dabei werden Einzelheiten der eigenen Arbeitsweise sichtbar, die in unübersichtlichen Häusern mit kleineren Büros nicht ganz so leicht erkennbar waren. Wann erscheint man eigentlich am Arbeitsplatz? Wie lange bleibt man? Wie sieht die Arbeit aus, die man gerade erledigt? Wie viel Zeit verbringt man damit, aus dem Fenster zu starren?

Weitere Spekulation: Die vorgesehenen Sitzplätze in den meisten Festangestellten-Büros und auch den etwas büroartiger eingerichteten Coworkingspaces spiegeln eine Situation wider, von der ich vermute, dass sie aus Röhrenmonitorzeiten stammt: Man sitzt mit dem Rücken zum interessanteren Teil des Raums und schaut auf eine Wand. (Ob es zu Schreibmaschinenzeiten anders war, weiss ich nicht. Jemand müsste mal Forschung betreiben, vielleicht anhand von Bürofotos.) Rein anekdotisch scheinen mir aber im sonstigen Leben, zum Beispiel in Restaurants, die Plätze beliebter zu sein, von denen aus man den Raum und die anderen Menschen sehen kann, und in weniger rigide möblierten Coworkingspaces diejenigen, bei denen man den Raum im Auge behalten kann und die Vorbeigehenden einem nicht auf den Monitor gucken. Beispielfoto aus dem St. Oberholz, Berlin.

tl;dr: Es gibt einen Zusammenhang zwischen vermehrter Zusammenarbeit und vermehrter Transparenz der Arbeitsweise, vom Am-Schreibtisch-Sitzen über das Schreiben bis hin zum Denken. Eine Erhöhung dieser Transparenz erzeugt Unbehagen, und dieses Unbehagen hat mit der Vorstellung zu tun, die eigene Arbeit sei mit geheimhaltungsbedürftigen Unzulänglichkeiten verbunden.