Abstract von Christine Lang
In aktuellen Drehbuchratgebern werden vor allem 3-Akt-Strukturen und damit Modelle einer geschlossenen Dramaturgie diskutiert. Dabei stehen immer eine Hauptfigur und ihre Handlungen im Mittelpunkt. Das europäische Kino zeichnet sich jedoch durch andere, weitaus vielfältigere dramaturgische Traditionen aus. Hier findet man epische, analytische, offene und experimentelle Formen. In diesen spielen ästhetische Mittel wie metaphorische Bilder, die symbolische Aktivierung dramatischer Situationen, dialektische Kontrastierungen und Variationen eine Rolle. Im Vergleich zu einer geschlossenen Dramaturgie verlangt diese Art des Erzählens eine aktivere Rezeption und lädt den Zuschauer zur Interpretation ein. Doch nur auf den ersten Blick wirken diese Filme unregelmäßiger oder gar unfertiger als Werke der geschlossenen Form; im Hintergrund wirken die Gesetze des dramatischen Erzählens, so dass ihre ästhetische Offenheit erst durch Teile der geschlossenen Form ermöglicht wird. Dabei werden jedoch traditionelle dramaturgische Verfahren variiert, gebrochen, fragmentiert und rekombiniert.
In diesem Vortrag werden dramaturgische Verfahren und ihre moderne Adaption anhand verschiedener Filmbeispiele des zeitgenössischen europäischen Kinos vorgestellt und nachvollziehbar gemacht: Asghar Farhadi verbindet in Le Passé (F/I 2013) das klassische Familiendrama mit einer analytischen Dramaturgie; Michael Haneke verlagert in dem epischen Drama Happy End (F/D/AU 2017) die eigentliche Narration ins Implizite, wodurch ein zentrales Thema exemplifiziert wird; Julia Ducournau verbindet in Titane (F 2021) verschiedene Genres auf postmoderne Weise. Diese Filme zeigen, wie facettenreich und vielfältig moderne Dramaturgie sein kann.