Binotto

  • Johannes Binotto, TAT/ORT. Das Unheimliche und sein Raum in der Kultur, ISBN 978-3-03734-416-3, Diaphanes Verlag 2013

Binotto

Prolog

Im Innern des von Daidolos gebauten Labyrinths sitzt der Minotaurus und wartet auf seine Opfer. Die Schreckgestalt – halb Mensch halb Stier – verschlingt, wer sich ihm nähert. AIIe neun Jahre werden sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen in das Labyrinth geschickt, zur Speisung des Ungeheuers.
So erzählt es die antike Sage.

Doch was, wenn es den Minotaurus gar nie gegeben hat? Was, wenn er immer schon nur Legende war? Wäre damit das Schicksal jener, die man ins Labyrinth schickt, nicht noch schrecklicher? Denn statt in den Fängen des Monstrums, würden sie im Wahnsinn umkommen Mit jedem Meter, den sie weiter tappen, steigert sich die Angst, dass hinter der nächsten Biegung des Ganges das Zentrum des Baus sich auftun könnte, in dem das Wesen lauert. War da nicht ein Scharren hinter der Mauer oder hört man nur das Echo der eigenen Schritte? Man stoppt und hält den Atem an. Immer wieder. Solange, bis man die Angst nicht mehr erträgt, bis man schreiend die Gänge entlang hastet, dem Tod entgegen, damit das Grauen endlich ein Ende haben möge.

Doch das schreckliche Ende wird nie erreicht, weil das Monster gar nicht existiert. Da ist nichts als ein endlos sich windender Weg und die Angst, die sich auf ihm ins Unermessliche erstreckt. Das Ungeheuer ist nicht dort im Innern. Es ist schon da, im Bau selbst. Es frisst uns auf – Schritt für Schritt.