Der Ton macht den Film

von Maurizius Staerkle Drux

1. Einleitung

An der Filmschule zirkulierte der Begriff „caméra-stylo“ und meine Faszination zu der Art des Filmemachens wuchs, bei der „der Autor mit seiner Kamera, wie ein Schriftsteller mit einem Stift schreibt.“ (Astruc, 1948) In mir kam die Frage auf, inwiefern sich dieser Gedanke auf den Ton übertragen liesse. In den meisten Fällen zeichnet sich die Filmerzählung durch die künstlerische Arbeit der Kamera oder durch die Montage federführend. Inwiefern bleibt aber der Aspekt vernachlässigt, über den Ton Geschichten zu erzählen?

Die digitale Revolution
Seit die gesamte Filmbranche auf digitale Datenträger für die Tonaufzeichnung umstieg, haben sich die Bearbeitungsmöglichkeiten des Filmtons um ein Vielfaches vergrössert und erleichtert. Im Dokumentarfilm schwindet zunehmend die Arbeit des Filmtonmeisters zugunsten von kleineren Filmteams, die dadurch ein flexibleres Eintauchen in Dreharbeiten ermöglichen sollen. Man überlässt die Tonaufnahme oft der Kamera selbst, resp. dem darin eingebauten Mikrofon. Entsprechend schlecht fällt der Originalton aus. Er klingt sehr räumlich und beinhaltet Störgeräuschen, wie Bedienung der Kamera, Wind oder unwichtigen Nebentönen. Automatisch wächst das Bedürfnis nach einer Nachbearbeitung, die den Filmton „retten“ und auf Spielfilmniveau heben soll.
Zwischen Spiel- und Dokumentarfilm
Zunehmend lässt sich der Trend beobachten, dass Spielfilme mit der rohen Dokumentarfilmästhetik liebäugeln und sich Dokfilme wiederum Spielfilmkonventionen bedienen. Der Spielfilm benutzt in der Regel eine synthetische und nachträgliche Tonaufnahme: Man eliminiert Störgeräusche, synchronisiert ganze Textpassagen nach und gestaltet Klangwelten. Im Dokumentarfilm geht es hauptsächlich um die Glaubwürdigkeit eines Originaltons (der durchaus mit Störgeräuschen echter wirken kann). Die Verständlichkeit der Sprache ist meist das entscheidende Kriterium, ob ein Ton brauchbar ist oder nicht. Kein Wunder gehört das kleine, kabellose Funkmikrophon zur Standartausrüstung jedes Dokumentarfilmers.
Der Dokumentarfilm lebt vom O-Ton
Aber was passiert, wenn man beim Dreh durch das unvorhersehbare Geschehen vor der Kamera nicht alle Töne aufnehmen kann?
Was, wenn der Autor eines Filmes nicht über Sprache, sondern durch Stimmungen und anhand von Geräuschen seine Geschichte erzählen will? Und verwendet man in Dokumentarfilmen keine Originaltöne, sondern nachträglich aufgenommene, müssen diese dann extra schlecht, also „dokumentarisch-echt“ klingen?
Über diese Fragen möchte ich im Folgenden anhand von Filmbeispielen diskutieren. Vorzugsweise werde ich das durch Ausschnitte meiner eigenen Filme versuchen, bei denen ich den Ton machte und für meine Begriffe auch die Regie.

REGIE UND TON IN PERSONALUNION (c) 2013 / Filmausschnitt aus „Wenn der Vorhang fällt“ von Maurizius Staerkle Drux.

Akustisch strukturiert sich dieser Ausschnitt durch folgende Komponenten:
Der Originalton (O-Ton) ist die wichtigste Kategorie. In diesem Filmbeispiel ist die Stimme des Protagonisten das einzige Element, das vor Ort aufgenommen wurde und nachträglich kaum lippensynchron zu reproduzieren wäre. Der Protagonist trägt in seinem Schal ein Funkmikrofon versteckt, damit kein störender Fremdton mitaufgenommen wird. In einer weiteren Kategorie fassen wir alle Hintergrundgeräusche zusammen und bezeichen diese als Atmosphäre (Atmo). Im Filmbeispiel hören wir das Zirpen der Grillen, die verdeutlichen, dass die Szene in der Nacht spielt. Ausserhalb des Wohnzimmers wechselt die Atmo zu einem kühlen Wind, der leise säuselt. Damit lässt sich absolute Stille erzählen. Das Beimischen dieser Hintergrundtöne verleiht der Tonspur seine Räumlichkeit, da die Stimme alleine sehr trocken klingen würde. Die Schritte der Protagonisten sind nachträglich aufgenommen und einzeln gesetzt. Sie folgen der Bildbewegung und bilden akustisch das Panorama von links nach rechts ab. Alle Geräusche (Foleys) fassen wir in einer neuen Kategorie zusammen. Man unterscheidet dabei zwischen den Originalton-Geräuschen, die eigenhändig vor Ort aufgenommen werden (wie zum Beispiel die Fussstapfen) und synthetisch hergestellten Sound-Effekten (SFX). Der anhaltende Piepton, der dem Protagonisten das Wort verbietet, ist ein Beispiel für einen solchen Effekt. Als letzte Kategorie bleibt die Musik, hier als Pauke live eingespielt.

In der folgenden Abbildung werden all diese Elemente auf eine Tonspur zusammenaddiert und ergeben den fertigen Filmton, der in diesem Falle bis auf die Sprache keine Originaltöne beinhaltet. Die horizontale Achse der Grafik zeigt den zeitlichen Verlauf der Szene, die Vertikalen bildet die Frequenzhöhe ab (tiefe Töne ganz unten, hohe Töne ganz oben). Umso heller ein Bereich eingefärbt ist, desto intensiver, also lauter erklingt dieser.

Musik

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FOLEY
MUSIK
In vielen Dokumentarfilmen wird mit einem weitfassenden Mikrofon (offene Richtcharakteristik) aufgenommen, so dass möglichst alle vorhandenen Klänge im Film hörbar sind. Die unterschiedlichen Tonquellen sind dann auf einer Tonspur zusammengemischt und nicht mehr voneinander zu trennen. Die Gestaltungsmöglichkeit ist eingeschränkt. Einzelne Elemente können aus dieser Tonspur kaum mehr verstärkt oder eliminiert werden. Ganz im Gegensatz dazu setzt der Spielfilm bei seiner Tonaufnahme alles daran, die oben benannten Kategorien so stark wie möglich voneinander zu separieren, um nachträglich gezielter und meistens auf das Bild und seine Einstellungsgrösse entsprechend zu gestalten. Im Sounddesign kommen neben den Originalton, der sich meistens auf die Sprachaufzeichnung beschränkt, die fehlenden Elemente dazu und runden das Klangbild nach Bedarf ab. Den Vorgang, die aufgeführten Ebenen in ein richtiges Klang- und Lautstärkenverhältnis zu setzten, bezeichnet man als Filmtonmischung.

2. Ton und Klang

KARMA SHADUB – FILMTRAILER (c) 2013 / Filmtrailer von Ramon Giger (Regie / Kamera), Jan Gassmann (Montage), Maurizius Staerkle Drux (Sounddesign).

In „Karma Shadub“ dokumentiert der Regisseur Ramon Giger Probearbeiten zum Stück seines Vaters Paul Giger. Die Aufnahmen der am Projekt beteiligten Tänzer sind zu einer eigenständigen Filmszene verwoben. In Wirklichkeit probierten die Tänzer jedoch zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten im St. Galler Dom, der aufgrund seiner imposanten Akustik jedes einzelne Geräusch in Lärm zerlegte. Der Originalton war entsprechend unbrauchbar. Am Schneidetisch wurden die gedrehten Einstellungen mit einem vorhandenen Musikstück unterlegt. Das Sounddesign hatte die Aufgabe, den Tänzern eine eigene Klangwelt zu erschaffen. Mit nachträglich aufgenommen Foleys bauten wir eine Tonkulisse nach. Wichtig war dabei, dass man natürliche Klänge erschuf. Für gewisse Stellen liessen wir die Tänzer ihre Bewegungen im Tonstudio nachtanzen. Für andere Stellen sass ich in meiner Küche und versuchte mit einfachen Mitteln, die akustische Auswirkung der Tänzer zu imitieren.

KLÄNGE ZUM TANZ (c) 2013 / Filmausschnitt aus „Karma Shadub“ von Ramon Giger & Jan Gassmann.

Das Abtrocknungshandtuch wurde zum Geräusch des Rockes, das Glas über den Brotkrümeln zur Drehung und die knarrende Türschwelle zum Fussboden des Tänzers. Schnell wurde mir klar: Das was sich richtig und echt anhört, ist oftmals nicht das, was man im Bild sieht oder erwartet hätte. Klänge haben von Natur aus eine gewisse manipulative Kraft. Ein sauber aufgenommener Tanzrock hört sich nicht zwingend so an, wie man ihn im Film erklingen hört. Die Tänzer hätten im Original viel dumpfer geklungen oder einen für das Ohr nicht wiedererkennbaren Ton produziert. Dass der künstliche Ton nun die Glaubwürdigkeit wieder herstellen kann und dem Film seinen dokumentarischen Charakter verleiht, wurde für mich zu einem überraschenden Erlebnis.

DIE FILMTONMISCHUNG Die oberste Tonspur enthält alle Originaltöne (Stimmen), die mittlere besteht aus zusamengemischten Foleys (Tanzgeräusche) und die untere ist die Musikaufzeichnung. (c) 2013 / Filmausschnitt aus „Karma Shadub“ von Ramon Giger & Jan Gassmann.

3. Ton und Narration

In „zwischen INSELN“ trifft ein Jugendsinfonieorchester auf einen erfahrenen Liedermacher. Durch die Begegnung dieser beiden künstlerischen Dimensionen, zwischen Pop und Klassik, zwischen jung und erfahren, sollte etwas Neues entstehen. Mein Anspruch an diesen Film war es, die Kluft dieser musikalischen Welten zwischenmenschlich zu durchbrechen. Eine Einführung in das Thema und Konflikt bietet folgender Trailer.

ZWISCHEN INSELN – FILMTRAILER (c) 2013 / Filmtrailer von Maurizius Staerkle Drux (Regie / Ton), Sebastian Weber und Christina Pollina.

Inmitten unserer Reise durch Italien ergab sich folgende Situation: Der Liedermacher Pippo Pollina war gezwungen aufgrund des schlechten Telefonempfanges anzuhalten, um im Radio ein Interview zu geben. Der Bus hielt an, der Kameramann folgte Pollina auf den Rasthof, ich blieb mit der Tonangel zurück im Bus. Die Szene dokumentiert sich wahrheitsgetreu wie folgt:

VARIANTE A (c) 2011 / Filmausschnitt aus „zwischen INSELN“ von Maurizius Staerkle Drux

Vor Ort hatte ich die Szene allerdings weniger neutral empfunden. Mir kam es vor, als seien die Jugendlichen wütend. Einen Tag zuvor hatte Pollina bereits ein Interview gegeben, in dem er das Orchester unerwähnt liess. Die Jugendlichen waren enttäuscht, gar entmutigt. Entsprechend wichtig war es Pollina, sie nun öffentlich zu erwähnen und für die bevorstehende Tournee zu motivieren.
Dieser Konflikt lag unausgesprochen in der Luft. Für den Film suchte ich eine Möglichkeit, den Verlauf der Tournee weiter spannungsvoll aufzuladen. Das Bildmaterial ist in dieser neuen Version identisch, nur die Tonspur ist eine andere:

VARIANTE B (c) 2011 / Filmausschnitt aus „zwischen INSELN“ von Maurizius Staerkle Drux

Schon während des Drehs stellte ich mir vor, Pollinas Stimme dröhne durch alle Lautsprecher und beschalle jeden denkbaren Raum. In meiner Fantasie würden die Jugendlichen nicht nur im leeren Bus, sondern auch auf dem Parkplatz und sogar beim Einkauf in der Tankstelle Pollina unausweichlich hören. Ich wollte die Szene durch den Ton dramatisch ausbauen. Die Umsetzung geschah erst ein Jahr später im Tonschnitt und erhielt dort die gewünschte dramaturigsche Wirkung.

Schlussendlich evoziert dieser Eingriff einen künstlich hergestellten Konflikt, den es in dieser Form nie gab. Er war unter den Jugendlichen zu spüren und durch diese Tonmanipulation wurde er auf gewisse Weise sichtbar.

4. Ton und Emotion

Manche Dokumentarfilmer verbringen viel Zeit mit ihren Protagonisten, andere gehen während des Drehs konzeptionell vor. Aber wie kommt man seinen Protagonisten emotional wirklich nah? Und ist dies auch durch den Ton möglich?
Während ich den vorhergehenden Beispielen die Tonebene massgeblich im Sounddesign (nach dem Dreh) veränderte, möchte ich diesmal den Ton wie einen rohen Fisch einfangen und möglichst unberührt lassen. War meine Tonangel bisher das Instrument eines stillen Beobachters, wollte ich diesmal die Protagonisten damit „anpieksen“ und meine Grenzen auslohnten.
Jeder Film braucht eine individuelle Annäherung an die Menschen, die man porträtiert und somit braucht jeder Film sein eigenes Tonkonzept. In der „Architektur einer Familie“, den ich seit zwölf Monaten drehe, geht es um ein 93-jähriges Architektenehepaar. Das Verschmelzen von Arbeits- und Familienleben ist in dieser Architekten-Dynastie Kerngedanke. Und so verbringe ich die meiste Zeit im Atelier des Ehepaars und lasse geschehen, was sich aus dem Moment heraus ergibt. Dabei tausche ich mich – unabhängig vom Thema des Filmes – auch über Musik aus. Was für Stücke hören meine Protagonisten gerne? Welche Musik inspiriert sie und in welchem Gefühlszustand entstehen ihre kreativen Prozesse? Wie denken und empfinden sie? Das musikalische Ambiente eines Ortes kann viel darüber preisgeben.

SZENISCHE BEOBACHTUNG (c) 2014 / Filmausschnitt aus der „Architektur einer Familie“, aus den laufenden Dreharbeiten von Maurizius Staerkle Drux.

Normalerweise schaltet man bei jedem Dreh das Radio zugunsten eines sauberen O-Tons aus. Diesmal fiel mir aber auf, wie regelmässig klassische Musik im Atelier gespielt wurde. Während der Herr mit dem Zeichenstift dadurch meditativ in seine Arbeit versank, lebte die nach Aufmerksamkeit ringende Gattin durch die Musik wieder auf.
Ich besorgte mir eine zweite Fernbedienung für das Radio, um dieses von der Kamera aus steuern zu können. Manchmal störte die Musik den Dialog und so konnte ich unbemerkt leise stellen. Meistens passierte aber gar nichts und ich unternahm nach langem Zuwarten einen ersten Versuch, mich der Protagonistin über den Ton zu nähern.
Die Möglichkeit bereits während des Drehs die Tonebene zu manipulieren, verursachte eine unmittelbare Interaktion mit der Protagonistin. Es gelang, eine atmosphärische Szene zu drehen, die das Charakterbild in dieser Knappheit und Ausdrucksstärke verdeutlichte, wie ich meine Protagonisten über lange Zeit in verschiedenen Situationen erleben durft. Dazu verhalf mirdas unmittelbarste und wohl emotionalste Element: die Musik.

MANIPULIERTE BEOBACHTUNG (c) 2014 / Filmausschnitt aus der „Architektur einer Familie“, aus den laufenden Dreharbeiten von Maurizius Staerkle Drux.