Do it again – Reenactment im Dokumentarfilm

Christian Iseli

Aufgezeichnet am 19. Mai 2016

Wenn Filmschaffende bei einem Ereignis mit der Kamera nicht dabei ­waren, haben sie die folgenden Optionen:Sie können Zeitzeugen er­zählen lassen, sie können Archivmaterial heranholen oder sie können die Ereignisse wiederherstellen, indem sie sie reinszenieren. Im künst­lerischen Prozess muss also eine Entscheidung gefällt werden: Für oder gegen ein Reenactment. Doch die Wahl ist kompliziert, denn es gibt mannigfaltige Erscheinungsformen, die unter diesem Begriff subsumiert werden können. Reenactments sind auch kein dem Dokumentarfilm vorbehaltenes Phänomen, ganz im Gegenteil: Biopics und viele historische Spielfilme können durchaus auch als solche gelesen werden. Und das gilt auch für animierte Dokumentarfilme, die sogenannten ­Anidocs. Wenn diese nämlich vergangene Ereignisse vergegenwärtigen und dabei auf Interviews von Zeitzeugen zurückgreifen, unterscheiden sie sich lediglich aufgrund des höheren Abstraktionsgrads von den Reenactments des Realfilms.

Im Einführungsreferat werden drei grundsätzliche Ansätze der dokumentarischen Reinszenierung hervorgehoben. Sie beziehen sich auf die in die Tagung einbezogenen Filmbeispiele und Referate:

  • Das «Do It Again» im Dokumentarfilm kann einerseits bedeuten, dass Zeitzeugen durch die Wiederholung von Handlungen leichter in die ­Vergegenwärtigung der vergangenen Ereignisse zurückfinden. Die Konfrontation mit der Vergangenheit ist methodisch der Psychotherapie entlehnt. Dabei geht es weniger um exakte Rekonstruktionen, sondern vielmehr um die Wiederbelebung von Erinnerungen.
  • Wenn historische Personen und Zeitzeugen von Schauspieler/innen ­dargestellt werden, um vergangene Ereignisse zu dramatisieren, unterscheidet sich das dokumentarische Reenactment in der Produktionsweise und Wahrnehmung kaum mehr vom Spielfilm. Der Vorteil der ­unterhaltsameren Publikumswirkung kann sich indes auch als Nachteil erweisen, denn dramatisierende Reinszenierungen werden in puncto Ausstattung, Besetzung und «Production Value» meist mit hochstehenden, historischen Spielfilmen verglichen, mit denen sie aus Budgetgründen nicht konkurrenzieren können.
  • Um politische Prozesse auf den Punkt zu bringen, inszenieren manche Filmschaffende auch Ereignisse, die gar nicht stattgefunden haben, ­vielleicht aber hätten stattfinden können oder sollen. Die Resultate sind somit Möglichkeitsformen und entsprechen quasi dem Konjunktiv des Dokumentarischen. Diese Methode ist besonders auch im Theater beheimatet.

Im Einführungsreferat werden verschiedene Spielformen des Reenactments im Hinblick auf Methodik und Wirkung untersucht. Dabei soll auch die Imagination thematisiert werden. Wie kann diese eigentlich zur Entfaltung kommen, wenn den Zuschauer/innen mit den Reinszenierungen möglichst alles gezeigt wird?