von Jens Eder
Wie lassen sich unsere Begegnungen mit den Personen, die im Dokumentarfilm dargestellt werden, grundlegend verstehen? Zunächst einmal: Wer Dokumentarfilme dreht, begegnet Menschen; doch wer Dokumentarfilme sieht, begegnet Figuren. Diese Figuren sind Konstrukte, von Filmschaffenden geformt und nicht mit den realen Personen zu verwechseln, auf die sie verweisen. Das heißt keineswegs, dass die Figuren des Dokumentarfilms fiktional sind: Im Unterschied zu jenen des Spielfilms sind sie mit spezifischen Wahrheitsansprüchen, Produktionsbedingungen und ethischen Verpflichtungen verbunden. Dennoch lassen sich Theorien, die zum Verständnis fiktionaler Figuren entwickelt wurden, mit einigen Anpassungen auf den Dokumentarfilm übertragen.
Mein Vortrag wird anhand von Beispielen zeigen, wie das Modell der „Uhr der Figur“ aus meinen Büchern Die Figur im Film (2008) und Characters in Film and Other Media (2025) dabei helfen kann, Figuren des Dokumentarfilms besser zu verstehen und differenzierter wahrzunehmen – gerade in ihren Besonderheiten. Kern des Modells bildet die Feststellung, dass Figuren vier Dimensionen haben: Sie sind zugleich dargestellte Wesen mit physischen, psychischen und sozialen Eigenschaften; Artefakte mit ästhetischen und erzählerischen Strukturen; bedeutungsvolle Symbole, in denen sich Aussagen verdichten; und Symptome soziokultureller Ursachen und Wirkungen. Erkenntnisse aus diversen Disziplinen ermöglichen es, diese „Vierdimensionalität“ dokumentarischer Figuren genauer zu erfassen.
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