Jahr: 2019

Vom Anfang und Ende der Kamera

Am Anfang steht die Kamera. Sie macht den Raum zur Fläche, indem sie einen Ausschnitt aus der dreidimensionalen Welt auf eine zweidimensionale Fläche projiziert. Und sie macht die Gegenwart zur Vergangenheit, indem sie Augenblicke festhält und auf einem Träger für die Nachwelt konserviert. Die kreative Auseinandersetzung mit den Gesetzen, Möglichkeiten und Tücken dieser grundlegenden Phänomene nennen wir Kameraarbeit. Aus der Kameraarbeit gehen visueller Stil und bildästhetische Positionen hervor. Durch die Projektion auf eine Fläche entstehen Linien und Formen. Sie treten als visuelle Elemente zueinander in Beziehung. Da-raus ergeben sich Komposition und Bildrhythmus. Die Illusion von Räumlichkeit und Körperlichkeit entsteht durch Fluchtpunkt, Perspektive und Licht. Kamerabewegungen, Perspektivenwechsel und unterschiedliche Einstellungsgrössen machen Raum und Zeit eindrücklich erlebbar. Die Kameraperson schafft damit auch erzählerische Momente und ermöglicht durch ihr Bildangebot die spätere Verdichtung im Schnitt.

Zentral ist die Frage der Kontrolle: Wieviel Einflussnahme ist im Dienst der optimalen Bildgestaltung zulässig? Zurückhaltende Beobachtung hat den Vorteil der Spontaneität und der authentischen Erfassung, kann aber zu unvorteilhaften Blickwinkeln, ungenügendem Licht oder langwierigen Abläufen führen. Soll also Licht gesetzt, dürfen Handlungsabläufe geprobt und Aufnahmen wiederholt werden? Solche Fragen sind zentral in der Zusammenarbeit zwischen Regie und Kamera und sie sind zugleich ein deutlicher Hinweis darauf, dass es um Dokumentarfilm geht.

Unterdessen können Räume und Menschen auch volumetrisch, mit Hilfe von Fotogrammetrie, Videogrammetrie und 3D-Laserscanning, erfasst werden. Es entstehen fotorealistische 3D-Modelle der Wirklichkeit, die Projektion auf eine 2D-Fläche entfällt. Die Technologie ist sehr aufwändig und die visuelle Qualität lässt noch zu wünschen übrig. In Virtual- Reality-Erfahrungen verändert sich dadurch aber das Raum- und Zeit-erleben der User/innen fundamental. Und auch als Ausgangspunkt für die 2D-Bildproduktion werden sich dadurch in Zukunft grosse Neuerungen ergeben. Denn alle typischen Parameter der Kamera wie Position, Perspektive, Brennweite, Schärfe und Licht werden damit zu einem Teil der Postproduktion und können im Nachhinein definiert und verändert werden. Die Kamera wird virtuell. Und damit rückt auch ihr Ende näher.

Einführungsreferat Donnerstag, 21. März 09:15

> Christian Iseli

Eric Stitzel


Eric Stitzel hat 1987-1993 in Genf an der damaligen Ecole Supérieure d’Art Visuel (heute HEAD) Fotografie und Film studiert. Sein Interesse galt zuerst der Fotografie, welches mit einem eidgenössischen Stipendium ausgezeichnet wurde. Nach Abschluss im Wahlfach Film arbeitete er für mehrere Jahre als Kameraassistent auf verschiedenen nationalen und internationalen Film- und Fernsehproduktionen. Nach der Jahrtausendwende begann er selber die Kamera auf Kinodokumentarfilmen von Jean-Stephane Bron und Ursula Meier („Mais im Bundeshuus“ und „Pas les flics, pas les noirs, pas les blancs!“) zu führen. Daraufhin betätigte er sich regelmässig als freischaffender Kameramann auf Kino- und Fernsehdokumentarfilmen.

Von 2006-11wirkte er unter anderem während fünf Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Unterrichtsassistent und Dozent im Departement Darstellende Künste und Film, Fachrichtung Film an der ZHdK. Vor sieben Jahren begann er als freischaffender Kameramann für das Schweizer Fernsehen zu arbeiten. Seit 2016 ist er festangestellter Kameramann und Teamleiter der Kameraleute der Abteilung ENG Kamera, Kultur und Unterhaltung der tpc (Technology and Production Center).

Filmografie
  • 2018 Vogel friss oder stirb (Regie Hans- Jürg Zumstein, TV-Dok)
  • 2018  Das Erste und das Letzte (Regie Kaspar Kasics, Kino-Dok)
  • 2017  Auf der Seeseite (Regie Liz Horrowitz, TV-Dok)
  • 2015  Yes No Maybe (Regie Kaspar Kasics, Kino-Dok)
  • 2014  Darkstar- Gigers Welt (Regie Belinda Sallin, Kino-Dok)
  • 2013  Die letzten Gärtner (Regie Belinda Sallin, TV-Dok)
  • 2005  Someone Beside You (Regie Edgar Hagen, Kino-Dok)

Rollenwechsel der Kamera: Vom Eindringling zum Erzählwerkzeug

Anhand von aktuell stattfindenden Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm über oder eher mit einer Minderheit in der Schweiz und dem angrenzenden Europa gehe ich auf den Prozess der Annäherung ein. Ausgehend von einem zurückhaltenden Blick soll die Bildsprache und der Rhythmus die Annäherung und das Eintauchen in die Welt der Protagonisten aufzeigen, um später die wenig bekannte Perspektive unserer Protagonisten auf die Mehrheitsgesellschaft zu entdecken. Mein Referat handelt vom Versuch, diesen Perspektivenwechsel während der Dreharbeiten vorzunehmen. Kann die Kamera vom Eindringling zum Erzählwerkzeug der Figuren werden? Und welche Strategien könnte es dafür geben?

Simon Guy Fässler