Kategorie: Talks

Das Publikum ist die neue Avantgarde

Abstract von Vinca Wiedemann

Das Publikum in aller Welt gewöhnt sich rasch an neue Formen der filmischen Erzählung. Jeden Abend schauen sie sich den neuesten Film oder die neueste Serie an, und am nächsten Abend verlangen sie mehr vom Gleichen und eine noch fortschrittlichere Erzählweise.

Doch die Entwicklung und Produktion neuer Filme und Serien dauert Jahre. Was brauchen Filmschaffende und die Industrie, um in einer Welt der neuen Medien und Genres, der veränderten Finanzierung und der neuen Märkte frische und reichhaltige Geschichten zu erzählen?

Anhand von Beispielen aus meiner Zusammenarbeit mit jungen internationalen Filmtalenten sowie mit den dänischen Veteranen Lars von Trier, Susanne Bier und Thomas Vinterberg werde ich mich auf die Mündlichkeit und den kollektiven Dialog als interessante Werkzeuge für das Geschichtenerzählen der Zukunft konzentrieren und Wege aufzeigen, wie die Branche den Dialog und das Feedback zwischen verschiedenen Sektoren und “Stämmen”, die es nicht gewohnt sind, zusammenzuarbeiten und miteinander zu kommunizieren, initiieren kann.

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Audiences are the new avantgarde

Abstract by Vinca Wiedemann

Global audiences are rapidly adapting to new ways of cinematic storytelling. Every night they stream the newest film or serial, and the following night they demand more of the same and even more advanced storytelling.

But new films and series take years to create and produce. What does it take for creators and industries to create fresh and rich storytelling in a world of emerging media and genres, changed financing and new markets?

Based on examples from my collaboration with international young film talent as well as with Danish veterans Lars von Trier, Susanne Bier and Thomas Vinterberg, I will focus on orality and collective dialogue as interesting tools for future storytelling, and I will suggest ways for the industry to initiate dialogue and feedback between different sectors and “tribes” that are not used to collaborate and communicate with each other.

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Storytelling beyond the template – Open narrative structures in film education and dramaturgy

Abstract by Kathrin Resetarits

Film education and dramaturgy beyond the template

After a long wasteland in which the supremacy of a particular narrative form – propagated by rulebooks and instruction books – was cemented and propagated with almost religious zeal, cinematic narrative forms away from this structural template are once again coming more to the fore. The fact that something is breaking out here certainly has to do with the fact that strictly dramatic or plot-centered films are losing their appeal due to their predictability and over-standardization, and new series formats are becoming increasingly important on the market. Fortunately, this also promotes diversity in content, artistic expression, and the activation of otherwise passively entertained viewers. This liberation is the prerequisite for lively, resonance-generating and socially relevant storytelling.

New approaches are needed to deal with thematically bound and constellative structures in which plot is not a priority. Approaches and recipes can only be simply adopted to a very limited extent, since in many cases they lead to deformations and limitations of the intended content. The unquestioned must be questioned, basic narrative techniques that start before the dogmas of Hollywood production must be worked out or reweighted.

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Erzählen abseits der Schablone – Offene Erzählstrukturen in Filmausbildung und Dramaturgie

Abstract by Kathrin ResetarIts

Filmausbildung und Dramaturgie abseits der Schablone

Nach einer langen Ödnis, in der die Vormachtsstellung einer bestimmten Erzählform – propagiert von Regelwerken und Anleitungsbüchern – mit fast religiösem Eifer zementiert und verbreitet wurde, rücken filmische Erzählformen abseits dieser Strukturschablone wieder mehr in den Vordergrund. Dass hier etwas aufbricht, hat sicher damit zu tun, dass streng dramatisch bzw. plot-zentriert erzählte Filme aufgrund ihrer Berechenbarkeit und Übernormierung an Attraktivität verlieren und neue Serienformate am Markt immer wichtiger werden. Dadurch wird aber erfreulicherweise auch Diversität in den Inhalten, künstlerischer Ausdruck und die Aktivierung der sonst passiv ge-und unterhaltenen Zuschauer*innen gefördert. Diese Befreiung ist die Voraussetzung für lebendiges, Resonanz erzeugendes und gesellschaftlich relevantes Erzählen.

Für den Umgang mit thematisch gebundenen und konstellativen Strukturen, in denen der Plot keine Priorität hat, braucht es neue Ansätze. Herangehensweisen und Rezepte können nur sehr begrenzt einfach übernommen werden, da sie in vielen Fällen zu Deformationen und Beschränkungen der intendierten Inhalte führen. Unhinterfragtes muss hinterfragt werden, grundlegende narrative Techniken, die vor den Dogmen der Hollywoodproduktion ansetzen, müssen erarbeitet bzw. neu gewichtet werden.

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Auf der Suche nach dem “dritten Kino”

ABSTRACT BY RÜDIGER SUCHSLAND

Was würde Romy Schneider heute eigentlich für Filme machen (können)? Oder Jean-Paul Belmondo?

Beobachtungen eines Kinogängers

In meinem Vortrag versuche ich einige Thesen zur Lage des Kinos in der Gegenwart zu formulieren. Grob gesagt möchte ich zunächst einen bestimmten Typ Film skizzieren, den es heute viel weniger, vielleicht überhaupt nicht mehr gibt. Es ist ein Typ Film, der Anspruch mit niveauvoller Unterhaltung verbindet, Exzess mit Tiefe.

Diesen Typ Kinofilm nenne ich mangels besserer Begriffe “das dritte Kino”. Dieses “dritte Kino” ist weder ein (post)moderner, von Fantasy und Weltentranszendenz getriebener Blockbuster, noch jenes (post)moderne Kunstkino, das den Weg in die Galerie schon halb zurückgelegt hat.

Zugleich war “das dritte Kino” schon immer die Synthese zwischen Elementen dieser beiden Filmtypen.

Im Vortrag, ganz klassisch ohne Bildausschnitt, versuche ich diese Leerstelle und meine Vermutung zu deren Gründen zu benennen.

Wichtig ist: Ich richte mich nicht gegen ein Kino, dass heute vorhanden ist, sondern ich plädiere für ein Kino, das es früher gab und das ich heute vermisse.

Meinen Vortrag verstehe ich als Anstoß, um sich wieder an diese Filme und an die vielen ungenutzten Möglichkeiten des Kino zu erinnern – wenn es gut läuft, dann werden alle anwesenden Filmemacher danach ganz wehmütig und haben sofort Lust, selber wieder solche Filme zu machen.

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Collecting Real Fictions

Abstract von Anna Sofie Hartmann

Eine Fallstudie, die die Recherche- und Entwicklungsmethode des Spielfilms “Giraffe” untersucht.

Was ist, wenn die Idee für einen Film von einem bestimmten Ort, von Gefühlen oder Beobachtungen über die Welt ausgeht und nicht von einer Figur oder einer Geschichte? Wie kann eine Erzählung aus der realen Welt um Sie herum ausgegraben werden, wie findet man den Fokus? Wie bringt man gesammelte und scheinbar disparate Ideen zu einem kohärenten dramatischen Ganzen zusammen?

In Collecting Real Fictions wird Anna Sofie über den Entstehungsprozess ihres zweiten Spielfilms «Giraffe» sprechen. Angefangen bei der Entwicklung der Ideen, über die Art und Weise, wie das Fotografieren von Orten und das Treffen mit Menschen den Schreibprozess beeinflusste, bis hin zu der Art und Weise, wie das Casting und die Arbeit mit Laiendarstellern den schließlich gedrehten Film beeinflusste, und nicht zuletzt, wie der Schnittprozess den Film wieder und wieder und wieder umschrieb.

Indem sie auf einem Kino beharrt, dessen Interesse darin besteht, der Kraft des Bildes Zeit zu geben und nicht nur eine Geschichte zu illustrieren, wird Anna Sofie erörtern, wie dieses Interesse konventionelle Erzählstrukturen sowohl überschneidet als auch mit ihnen kollidiert – und wie es möglich ist, innerhalb dieser Strukturen Räume für Momente reinen cineastischen Vergnügens zu finden.

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Collecting Real Fictions

Abstract by Anna Sofie Hartmann

A case study examining the research and development method of the feature film “Giraffe”.

What if an idea for a film begins with a specific place, or from feelings or observations about the world and not with a character or a story? How do you excavate a narrative from the real world around you and find your focus? How do you bring collected and seemingly disparate ideas together to form a coherent dramatic whole?

In Collecting Real Fictions Anna Sofie will discuss the process of making her second feature film “Giraffe. Beginning with the gestation of the ideas, to how photographing places and meeting people influenced the writing process, to how casting and working with non-professional actors informed the film that was eventually shot, and not the least, how the editing process rewrote the film again and again and again.

In insisting on a cinema whose interest it is to give time to the power of the image, not merely to illustrate a story, Anna Sofie will discuss how that interest both intersects and clashes with conventional narrative structures – and how it’s possible to find spaces within those structure for moments of pure cinematic pleasure.

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From Reality to Fiction and back / Case study “La Mif”

Abstract by Fred Baillif

A group of teenage girls have been placed in a residential care home with social workers. This forced “family” experience creates unexpected tensions and intimacies. An incident triggers a chain of over-reactions. The fall-out reveals the weaknesses of the retrograde juvenile system, as well as the demons that haunt ‘La Mif’. A social drama, mirroring our ill-mannered morals.

In search of natural performances and unsuspected talents, Fred Baillif has developed a direct cinema style based on real people and improvisation. In this case, the process started with individual interviews with each of the residents and the employees of a children’s home. He then conducted improv workshops over two years, which progressively allowed characters to emerge. He gathered all the elements that came out and wrote a script. It didn’t have dialogues, but a general plot, an outline and some punchlines. The headmaster Claudia Grob (Lora) shared with him her strong frustration towards the youth protection system and doing so, she extremely inspired the story. Fred will share this experience and his vision of what people call “Cinema verité”.

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Was beschäftigt die Branche – Stoffentwicklungen bei Serien und Filmen

Abstract von Lars Wiebe & Jan Bennemann (Netflix)

Jan Bennemann und Lars Wiebe sind schon lange in der Filmbranche tätig und haben bei verschiedenen nationalen und internationalen Produktionsfirmen gearbeitet. Beide sind im letzten Jahr zu Netflix gewechselt und verantworten dort als Content Executives, gemeinsam mit weiteren Kolleg*innen, den fiktionalen Film- und Serienbereich von Netflix in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Als Kreativ-Verantwortliche erreichen die beiden viele Projektentwicklungen und Pitches aus dem gesamten deutschsprachigen Raum und so verfügen sie über einen einzigartigen Einblick in die Fülle und Breite der unterschiedlichsten Inhalte. Beiden begleiten häufig den Prozess der Stoffentwicklung in enger Zusammenarbeit mit den Kreativen und arbeiten selbst bei der Stoffentwicklung mit.

Mike Schaerer möchte im Gespräch mit Jan Bennemann und Lars Wiebe erörtern, welche Entwicklungen in der Dramaturgie und der Narration zu spüren sind, ob sich Trends in den inhaltlichen Themen und der Tonalitäten abzeichnen oder neue Entwicklungen in den Erzählweisen und -mustern durch die neuen Player am Markt entstehen. Außerdem interessiert ihn, inwieweit sie in ihrer Arbeit auf die Stoffentwicklung Einfluss nehmen und nach welchen Stoffen sie suchen.

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Vinca Wiedemann

Vinca Wiedemann machte ihren Abschluss als Filmeditorin an der National Film School of Denmark, wechselte aber bald in die Drehbuchentwicklung. Als Filmbeauftragte des Danish Film Institute und künstlerische Leiterin von New Danish Screen war sie für die Entwicklungs- und Produktionsförderung zahlreicher Spielfilme verantwortlich und trug maßgeblich zum Aufstieg des dänischen Kinos bei. Vinca ist eine international geschätzte Drehbuchberaterin und Story Supervisor für Regisseur:innen, z. B. arbeitete Lars von Trier bei seinen Drehbüchern für Melancholia und Nymphomaniac eng mit ihr zusammen, und derzeit arbeitet sie mit Thomas Vinterberg an dessen erster Fernsehserie. Sie war fünf Jahre lang Direktorin der National Film School of Denmark und ist international als Mitglied von Think Tanks, Filmjurys, Hauptrednerin sowie als Tutorin und Dozentin für künstlerische Zusammenarbeit und Filmfragen im Zusammenhang mit dem Entwicklungsprozess, Innovation, Bildung und Filmpolitik tätig.

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Vinca Wiedemann (EN)

Vinca Wiedemann graduated as a film editor from National Film School of Denmark, but she soon moved into script development. As film commissioner at the Danish Film Institute and artistic director of New Danish Screen, she was responsible for granting development and production support to numerous feature films and was instrumental in the rise of Danish cinema. Vinca is an internationally esteemed script consultant and story supervisor for directors e.g., Lars von Trier collaborated closely with her on his scripts for Melancholia and Nymphomaniac, and she is now working with Thomas Vinterberg on his first tv series. She was Director of The National Film School of Denmark for five years, serves internationally as member of think tanks, film juries, keynote speaker and as a tutor and lecturer on artistic collaboration and film issues linked to the development process, innovation, education, and film policy.

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Die Grenzen verschieben: Vom Alten lernen, das Neue schaffen

Abstract von Dr. Linda Seger

(aus dem Englischen übersetzt) Kreative Autor:innen arbeiten mit Grenzen und mit Balance. Es ist ein Balanceakt zwischen Kunst und Handwerk – das Handwerk zu beherrschen und die Kunst zum Ausdruck zu bringen. Ohne Handwerk droht Verwirrung und eine willkürliche Herangehensweise an die Kunst – was manchmal funktioniert, aber meistens nicht. Ohne Kunst ist das Produkt abgeleitet, offensichtlich und banal.

Es gibt ein Gleichgewicht zwischen Kunst als Ausdruck und Kunst als Kommunikation.
Es gibt ein Gleichgewicht zwischen dem Vorantreiben unserer Kunst in neue Formen und dem Festhalten an den vermeintlich “alten Regeln”, so dass wir in ihnen erstarren. Es gibt ein Gleichgewicht zwischen “immer innerhalb der Linien malen” und “tun, was man will”.

Ich glaube nicht an Regeln und Formeln, aber ich glaube an Konzepte und Ideen. Ich glaube: “Du kannst alles tun, was du willst, wenn du es kannst!” Das bedeutet, dass man jedes Mal, wenn man von dem abweicht, was andere Leute als Regeln bezeichnen, einen Ausgleich schaffen muss und sich bewusst sein muss, was man tut und warum man es tut und wie man es umgehen kann, damit es funktioniert. Wir werden also über einige dieser heimtückischen Techniken sprechen, die gut zu kennen sind und die unserer Kunst dienen können.

In diesem 30-minütigen Vortrag werden wir uns mit den folgenden Themen und Fragen befassen:
1. Momentum-Probleme: Wie hält man eine Geschichte in Gang, wenn man den Schwerpunkt auf Episoden und Entwicklung statt auf Ergebnisse und Auflösungen legt?
2. Fokus- und Orientierungsfragen: Wie hält man den Fokus aufrecht, wenn man den Schwerpunkt eher auf emotionale Momente und Transformation als auf Handlungspunkte legt?
3. Strukturelle Fragen: Welche Aspekte der Drei-Akt-Struktur sind eher hilfreich als hinderlich, und wie können diese eingebracht werden, während man scheinbar “alle Regeln bricht”? (Wenn Sie Zeit haben, sehen Sie sich den Film Luther mit Joseph Fiennes an, bei dem ich als Drehbuchberaterin fungierte und im dritten Akt zwei der wichtigsten “Regeln” beim Drehbuchschreiben brach. Ich werde kurz darauf eingehen, welche das waren und wie wir das Problem kompensiert haben, das sich daraus ergeben hat).
4. Aktionspunkte: Wie kann man Aktionspunkte reduzieren, um das Publikum nicht zu erschlagen (à la Stirb Langsam) und sie trotzdem für die Klarheit nutzen? Wie viel Abstand wollen Sie zwischen Ihrem Publikum und Ihrer Handlung?
5. Quellen und Wissen: Wie suchen Sie nach Quellen und arbeiten mit dem Wissen und den Erkenntnissen anderer Künstler, ohne sich von ihnen in ihre eigenen Formeln pressen zu lassen?

Es könnte hilfreich sein, einen Blick in mehrere meiner Bücher zu werfen, die diese Fragen auf unterschiedliche Weise behandeln: Making a Good Script Great, das sich mehr mit konventionellen Strukturen beschäftigt. Advanced Screenwriting, das sich mit unkonventionellen Strukturen befasst. Making a Good Writer Great, das sich mit dem kreativen Prozess befasst. Und das Kapitel über den Film Crash in And the Best Screenplay Goes to – Learning from the Winners.

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