Marmelade

Text: Gerhard Meister

Der komplette körperliche und geistige Zusammenbruch kündigte sich in seinem Vortrag, der sich bis in seine zweite Hälfte hinein durch seine intellektuelle und rhetorische Brillanz auszeichnete, dadurch an, dass in eben diesem Vortrag das Wort Marmelade auftauchte, ohne dass dies irgend einen Sinn gemacht hätte, so dass man es als Versprecher und einmalige, nicht weiter bemerkenswerte Fehlleistung hätte zur Seite legen können, aber da tauchte das Wort Marmelade schon wieder auf, unüberhörbar sinnlos in einem ansonsten makellosen Satz und kurz darauf schon wieder, diesmal sogar als Verbum gebraucht, als klebriges Virus überzog Marmelade in mittlerweile allen vorstellbaren Wortformen seinen Vortrag, den er, nach Luft schnappend im Kampf gegen eben diese Marmelade weiterzuhalten suchte, bis seine Rede mitten im Satz abbrach und er vornüberkippte und auf dem Boden aufklatschte, nein, nicht wie Marmelade, sondern als eine von Marmelade gefällte Tanne.

Kunst des Vergessens

Text: Gerhard Meister

Hund, noch eine Marianne. Marianne nehme ich am Sonntag nie, sagt die Zwiebel. Die Zwiebel? Aber wo führt das hin? Also was jetzt? Das da. Was da? Trifft auf dem Hund ein Lanziger einen anderen Lanziger: Du sag mal, wie lange ist jetzt eigentlich dieser Text schon tot? Seit letzten Sonntag vor zwei Jahren, sagt Lanziger zu Lanziger diesem Hund von einer Marianne und kratzt sich dabei an seiner Zwiebel wie ein – Wie ein was? Hab ich vergessen.

Timo liegt auf dem Rücken

Text: Gerhard Meister

In ihrem neuen Film geht es nun um das Grau-in-Grau des Alltags in den Vororten. Im Zentrum stehen dabei Timo, Estelle und Miro, drei Geschwister, die mit ihrer Mutter in einem Hochhaus wohnen. In immer neuen Anläufen fächert der Film nun die zahllosen Facetten eines vaterlosen Familienalltags auf, flankiert von den als knapp gezeichneten Miniaturen aufscheinenden Nachbarn und spürt dabei noch den feinsten Nuancierungen verschiedener Grauwerte nach, behält dabei stets seinen liebevollen Blick für das zuweilen auch auf den zweiten Blick belanglose Detail sowie das Abseitig-Gewöhnliche, aus dem sich dann aber doch, stets den langen, epischen Atem bewahrend, die Gesamtschau einer Tristesse ergibt, in die anstelle eines Abgrundes hie und da ganz zaghaft eine Ahnung von Sonnenschein fällt.

Eine isländische Saga

Text: Gerhard Meister

Könnte natürlich jetzt googeln, oder, ob es diesen Dagda beziehungsweise seinen Sohn tatsächlich gibt in irgend einer isländischen Saga, von denen ich zugebenermassen sämtliche Staffeln verpasst habe, wobei Tuath dann irgendwie nicht so isländisch tönt und das ganze irgendwie zugegeben schon fast wie echt und dann doch wieder nur fast, gut, Rohfassung eben, da wird noch mal geschliffen am Versmass, der trefflichen Metapher, doch zu welchem Ziele, Zwecke, Sinn? Was will der Autor uns am 11.2.2015 sagen mit diesen 5000 Jahre alten Versen vom abtretenden Helden? Was treibt er für ein Spiel? Ja, das hätt mich jetzt schon noch wunder genommen, das soll er uns beziehungsweise mir nun bitte künden in fadengrader Prosa, wenn ich bitten darf.

Dramaturgiesitzung im Stadttheater

Text: Gerhard Meister

Also wer ist dafür?

Doch ich denke, wir können das machen, Studiobühne natürlich.

Ich bin doch für den Wedekind.

Also ich meine, dieses Lebensgefühl, diese Probleme, das kommt doch eigentlich ganz schön zum Ausdruck. Er hat doch eigene Bilder.

Wir sind jetzt aber nicht in irgendeinem Wedekindjahr oder hab ich da was verpasst?

Natürlich kennt man das alles. Natürlich sind das nicht unserer Probleme.

Wir haben noch nichts in diesem Segment.

Ist aber nicht wirklich was für Schulklassen.

Deshalb bin ich ja für Wedekind.

Im Theater muss es ja nicht immer um die eigenen Probleme gehen.

Im Gegenteil.

Ich denke auch, dass es doch recht hübsch in die Lücke passt, die wir in unserem Spielplan noch haben.

Also wir hätten da einen Regieassistenten, der könnte das machen, vier Wochen Probezeit.

Quick and Dirty.

Wie immer in solchen Fällen.

Also, das kann man doch so nicht sagen.

Vom Autor hat man bisher nichts gehört?

Nein, wir hätten den dann entdeckt.

Na immerhin das.

Stimmen wir doch ab.

Gut, stimmen wir ab.

Wenn Politiker in ihren Antrittsreden lobend von …

Text: Gerhard Meister

Yannick Haenel, die bleichen Füchse, der Autor war mir bisher unbekannt, ist mir gestern in der Buchhandlung in die Finger gekommen. Das Buch erzählt im ersten Teil von einem Mann, der keinen Job mehr hat, dem die Wohnung gekündigt wird und der dann als Obdachloser auf Immigranten trifft, Leute aus Afrika, Mali insbesondere. Im zweiten Teil kippt der Roman, aus der Erzählung über den Mann wird ein Manifest oder Pamphlet oder wie man das nennen soll der Unterdrückten, geschrieben in der Wir-Form, die sich erheben. Es gibt einen Aufstand, eine Revolution. Die Aufständischen tragen Masken. Der bleiche Fuchs ist eine Dogon-Gottheit die quer zur Götterordnung ihr anarchistisches Wesen treibt. In der Literaturkritik kommt der Wechsel zur WIR-Form und seinem Pathos mehrheitlich schlecht bis sehr schlecht weg.

Der erste Satz

Schreiben wir den ersten Satz zuerst? Oder zuletzt? Oder irgendwann dazwischen? Was zeichnet einen guten ersten Satz aus? Und wie einen guten ersten Satz finden und formulieren?

Die Frage nach dem ersten Satz treibt viele um, die schreiben. Auf Blogs von Schreibworkshopanbietern ist zu lesen, der erste Satz sei wichtig, weil dieser erste Satz entscheide, ob jemand ein Buch kauft, liest, gut findet, weiterempfiehlt – oder sofort wieder weglegt. Der erste Satz soll Neugier erzeugen, Spannung wecken, Hunger auf mehr.

2007 lancierten die „Initiative deutsche Sprache“ und die „Stiftung Lesen“ einen Wettbewerb zur Kür des „schönsten“ ersten Satzes. Gewonnen hat Günther Grass mit dem Anfang seines Werks „Der Butt“: „Ilsebill salzte nach.“ Franz Kafka schaffte es immerhin auf den zweiten Platz: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Zu den berühmten ersten Sätzen der deutschen Literatur gehört auch Max Frisch mit „Ich bin nicht Stiller“.

Bekannte erste Sätze aus der Weltliteratur sind zum Beispiel:

  • „Nennt mich Ismael.“ (Hermann Melville, „Moby Dick“)
  • „Alle glücklichen Familien sind gleich, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ (Leo Tolstoi, „Anna Karenina“)
  • Mr. und Mrs. Dursley im Ligusterweg Nr. 4 waren stolz darauf ganz und gar normal zu sein, sehr stolz sogar. (J.K. Rowling, „Harry Potter und der Stein der Weisen“)