Werkzeuge VII

Ein wichtiges Werkzeug ist das Experiment. Das Fremdwörterbuch übersetzt den Begriff als „1. wissenschaftlicher Versuch, 2. gewagtes, unsicheres Unternehmen“. Auf Neuland gewagt hat sich zum Beispiel Ernst Jandl.

Auch die Pataphysik begibt sich in unerforschte Territorien, inner- und ausserhalb der (verbalen) Sprache. Zu den Gründern dieser Disziplin gehört Raymond Queneau, prominentes Mitglied des Autorenkreises Oulipo („Ouvroir de la Literature potentielle“, deutsch: Werkstatt für potentielle Literatur).

Ex Libris

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Wer sich theoretisch mit dem Schreiben und insbesondere mit der Schrift beschäftigen will, liest Vilém Flusser. Zugegeben: nicht die leichteste Kost. Aber: anregend. Das zeigt auch der letzte Abschnitt auf der letzten Seite:

Das Wissen von der eigenen Inkompetenz ist nicht notwendigerweise ein Nachteil. Man kann sich dabei über sich selbst lustig machen (…).

Ebenfalls theoretisch, teilweise poetisch, teilweise essayistisch beschäftigt sich Beat Gloor mit der Sprache und dem Schreiben. Die letzten Seiten seines schmalen Büchleins enthalten eine Liste: „Verwendete und weiterempfohlene Kulturdatenträger / Auf die Insel“ von A wie Gilbert Adair („Der Tod des Autors“) bis Z wie Ueli Zindel („Es anders Läbe“ / Hörspiel).

Über das Gegenstück des Schreibens – das Lesen – denkt Daniel Pennac nach und formuliert nach drei einleitenden Essays „die unantastbaren Rechte des Lesers“:

1. Das Recht, nicht zu lesen

2. Das Recht, Seiten zu überspringen

3. Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen

4. Das Recht, noch einmal zu lesen

5. Das Recht, irgendwas zu lesen

6. Das Recht auf Bovarysmus (die buchstäblich übertragbare Krankheit, den Roman als Leben zu sehen)

7. Das Recht, überall zu lesen

8. Das Recht herumzuschmökern

9. Das Recht, laut zu lesen

10. Das Recht zu schweigen

Im Feld des „kreativen Schreibens“ gibt es unzählige Ratgeberbücher. Zu den klügeren gehören die kleinformatigen Bände einer Reihe aus dem Dudenverlag.

In der Regel anregender und ansteckender als die Lektüre von Ratgeberliteratur ist die Lektüre von „eigentlichen“ Büchern und davon gibt es viele. Zum Beispiel die Sudelbücher von Lichtenberg, 250 Jahre alt und kein graues Haar:

Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe, ich weiss aber so viel, beides trägt nichts desto weniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei.

Solch kurz gefassten Gedanken werden als Aphorismen bezeichnet. Beispiele liefert Robert Gernhardt in seinen „Prosamen“, nebst Beispielen zu vielen weiteren prosaischen Genres, etwa dem der Nachricht:

Das Weltall wird auch immer dicker, stellten amerikanische Gynäkologen während einer tour d’horizon fest. Als Ursache vermuten sie: Zuviel Sterne, zuwenig Bewegung.

Die Form der Frage reizen Peter Fischli und David Weiss aus und das bis zur letzten Seite, auf der zu lesen ist:

Verdient die Wirklichkeit dieses Misstrauen?

Sucht mich das Glück am falschen Ort?

Ein Buch für alle, die eigentlich keine Zeit zum Lesen haben, meint der Klappentext. Ein Buch auch für jene, die auf 200 Seiten in 100 Kürzestgeschichten aus der Weltliteratur unterschiedlichste Sprachstile, rhetorische Kunstgriffe, dramatische Verläufe und komische Wendungen analysieren wollen, zum Beispiel im „Liebesbrief“ von Ennio Flaiano:

Er war bei einer Literaturzeitung angestellt, um Artikel und Erzählungen zu lesen. Einmal erhielt er einen Liebesbrief: Er gefiel ihm nicht, doch mit ein paar Streichungen und wenn man den Schluss neu schrieb, mochte es angehen.

Oder in einer Geschichte ohne Titel von Ramón Gómez de la Serna:

Er hatte ein so schlechtes Gedächtnis, dass er vergass, dass er ein schlechtes Gedächtnis hatte, und anfing, alles zu behalten.

Strenge Regeln ermöglichen mehr Freiheit als vorgebliche Regellosigkeit. Die Autoren der Gruppe Oulipo setzen diese Erkenntnis in ihren Werken gezielt und bewusst ein. Georges Perec etwa, der jedes seiner Bücher nach einem anderen Prinzip verfasst hat, oder Raymond Queneau, dessen „Stilübungen“ vielfach übersetzt wurden, auch in die Sprache der Graphic Novel.

Ebenfalls mit einer strengen Regel hat der Künstler Joe Brainard gearbeitet:

Ich erinnere mich, dass ich zuschaute, wie meine Haare auf den Boden fielen und kleine Häufchen bildeten.

Ich erinnere mich, dass ich Angst hatte, der Friseur könnte ausrutschen und mir ins Ohr schneiden.

Ich erinnere mich, dass das auch passiert ist.

Nicht ganz freiwillig unterwirft sich Wolfgang Herrndorf einer Regel. Er sagt sich nach der Diagnose eines (unheilbaren) Hirntumors: „Arbeit. Arbeit und Struktur.“ Und beginnt einen Blog zu schreiben, ein digitales Tagebuch, erst nur für den Freundeskreis, dann öffentlich. Vom 8.3.2010 13:00 bis zum 20.8.2013 14:00. Parallel dazu Romane.

Weil einem Herrndorf das Herz bricht, braucht’s zum Abschluss ein wenig „Soforthilfe“:

Dies ist ein Buch zur Beruhigung. Dass es auch anderen so geht. Dies ist ein Buch zur Ermutigung, dass auch andere so sind.

 

Astronaut

Text: Gerhard Meister

Ja u ha du glich mau dr Arsch glüpft u bi zum Bruefsberater, ja, u när hani so Teschts müesse usfüue, Chrützli hie, Chrützli da u är het gmeint, mou, es sig eigentlech ziemlech klar, vo de Ergäbnis här chömm für mi eigentlech nume Aschtronaut i Frag u öb mer das scho mau überleit heig, Aschtronaut z wärde u i ha gmeint, nei, bis jetz nid, aber wenn er mein, i chönn ja mau, u das Wäutau heig sicher o siner faszinierende Site, wemes vo nächer aluegi, u i chönn ja mau es paar Bewärbige usela, das gäb ja nid so viu ztüe u das hani när o gmacht u hami när o chönne gar vorschteue bir NASA u die hei gmeint, Aschtronaute chönne si immer bruuche u heimer sone Azug gäh, woni ha müesse alege mit Heum u Rucksack u es paar Schlüüch u heimi när uf dSchtartrampi gschickt, u när hets gheisse, i söu ischtige u Platz näh u das hani gmacht u bi drin ghocket i dere Ragete u eine het mer dChnöpf erklärt u weler dass i im Notfau müess drücke u när isch Türe zuegange u sie hei d Ragete abglah u i drin ungerwägs zum Mond u bi dert glandet u das Hüehnerschtägli zdürab u ha no dänkt, das me da jetz irgend sone Sätzli müessti säge über chlini u grossi Schritte oder so u has irgendwie nid zämmebracht u ha dänkt i Gottsname, me cha o ohni Gschnurr das Leiterli zdürab u si Fuess i Mondschtoub setze u e Schritt mache u no mau eine u no ziemlech witi Schritte si das gsi, wäg dr Schwärchraft oder, wos weniger het dervo ufem Mond u vo derthär äbe o die Gümp wome cha mache dert obe ja, u i ha no es paar gmacht vo dene Gümp u bi när so chli dagschtange u ha dr schwarz Himmu gseh u di blaui Chugele zmitts drin, dÄrde oder u ha dänkt, warum nid Aschtronaut, es git sicher Schlimmers?

Rosmarin

Text: Gerhard Meister

Weiss o nümm uf youtube oder so isch das gsi u da het me sone Gürtu gseh, wome ume Boumschtamm cha lege u dä Gürtu isch när so anes Grät agschlosse gsi wo när zSchmärzensschreie vo däm Boum hörbar macht, we me ne umsaget. Weiss o nümm öb das jetz sich ärnscht gmeint gsi oder Kunscht oder irgend e Spinner, o a Schmärzensschreie vom Boum cha mi nümm erinnere, aber ds Biud isch mer irgendwie blibe.

Begegnung mit Britta

Text: Gerhard Meister

Britta steht vor einem Aquarium. Im Aquarium schwimmen, ich zähle sie, sieben Goldfische. Narration und Interaktion, sagt Britta beziehungsweise haucht sie ans Aquarium, das sich von ihrem Atem beschlägt, Narration und Interaktion, davon ist auszugehen, sind Begriffe, die sich im Gehirn von Goldfischen nicht vorfinden. Es ist davon auszugehen, dass der Goldfisch sich überhaupt keinen Begriff von gar nichts macht. Aber was tun sie? Schauen Sie her. Sie interagieren, bilden Formationen, wechseln diese, wir haben hier ein goldenes Flaggenalphabet aus Fischleibern vor uns und damit eine Botschaft, eine Erzählung. Ihnen gelingt die Synthese, die uns Denkenden nicht möglich ist. Als Lektüreempfehlung gibt mir Britta den Aufsatz Heinrich von Kleists über das Marionettentheater mit. Voll neuem Elan bewege ich mich Richtung Bibliothek.

Marmelade

Text: Gerhard Meister

Der komplette körperliche und geistige Zusammenbruch kündigte sich in seinem Vortrag, der sich bis in seine zweite Hälfte hinein durch seine intellektuelle und rhetorische Brillanz auszeichnete, dadurch an, dass in eben diesem Vortrag das Wort Marmelade auftauchte, ohne dass dies irgend einen Sinn gemacht hätte, so dass man es als Versprecher und einmalige, nicht weiter bemerkenswerte Fehlleistung hätte zur Seite legen können, aber da tauchte das Wort Marmelade schon wieder auf, unüberhörbar sinnlos in einem ansonsten makellosen Satz und kurz darauf schon wieder, diesmal sogar als Verbum gebraucht, als klebriges Virus überzog Marmelade in mittlerweile allen vorstellbaren Wortformen seinen Vortrag, den er, nach Luft schnappend im Kampf gegen eben diese Marmelade weiterzuhalten suchte, bis seine Rede mitten im Satz abbrach und er vornüberkippte und auf dem Boden aufklatschte, nein, nicht wie Marmelade, sondern als eine von Marmelade gefällte Tanne.

Kunst des Vergessens

Text: Gerhard Meister

Hund, noch eine Marianne. Marianne nehme ich am Sonntag nie, sagt die Zwiebel. Die Zwiebel? Aber wo führt das hin? Also was jetzt? Das da. Was da? Trifft auf dem Hund ein Lanziger einen anderen Lanziger: Du sag mal, wie lange ist jetzt eigentlich dieser Text schon tot? Seit letzten Sonntag vor zwei Jahren, sagt Lanziger zu Lanziger diesem Hund von einer Marianne und kratzt sich dabei an seiner Zwiebel wie ein – Wie ein was? Hab ich vergessen.

Timo liegt auf dem Rücken

Text: Gerhard Meister

In ihrem neuen Film geht es nun um das Grau-in-Grau des Alltags in den Vororten. Im Zentrum stehen dabei Timo, Estelle und Miro, drei Geschwister, die mit ihrer Mutter in einem Hochhaus wohnen. In immer neuen Anläufen fächert der Film nun die zahllosen Facetten eines vaterlosen Familienalltags auf, flankiert von den als knapp gezeichneten Miniaturen aufscheinenden Nachbarn und spürt dabei noch den feinsten Nuancierungen verschiedener Grauwerte nach, behält dabei stets seinen liebevollen Blick für das zuweilen auch auf den zweiten Blick belanglose Detail sowie das Abseitig-Gewöhnliche, aus dem sich dann aber doch, stets den langen, epischen Atem bewahrend, die Gesamtschau einer Tristesse ergibt, in die anstelle eines Abgrundes hie und da ganz zaghaft eine Ahnung von Sonnenschein fällt.